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# taz.de -- Schorsch Kamerun am Residenztheater: Die wunderschöne Togetherness
> So viele Gemeinsamkeitsprofis, wie sein Netzwerk hergibt, versammelt
> Schorsch Kamerun. Sie treffen ins vom Lockdown verstaubte Herz.
Bild: Schmettern Berts Brechts Barbarasong mit Grandezza: Alice und Ellen Kesse…
Was für ein Spektakel: Wenn [1][Schorsch Kamerun, Ex-Frontsänger] der
Punkband Goldene Zitronen und Betreiber des Hamburger Golden Pudel Club, in
München eine Bühne bespielt, hat er selten enttäuscht.
So auch diesmal. An zwei – leider nur zwei! – Juliabenden ballt er kurz vor
Spielzeitende und Sommerpause noch einmal alles an Mut, Tiefe und kreativer
Energie zusammen, was sein Netzwerk hergibt. Man möchte fast heulen, als
diese Show nach knapp 80 Minuten schon zu Ende geht. Klappt aber nicht,
weil man auch lachen, pfeifen, klatschen muss.
Auf der Bühne des Residenztheaters bringt der 59-Jährige seine verspielte
Performance mit dem Titel „All together now!“ zur Aufführung. Formal fühlt
sich die „Happening-Gala für nachhaltige Gemeinsamkeit“, die aus einer
Abfolge von sich stetig an Irrsinn und Fantasie überbietenden
Einzelauftritten besteht, nicht wie Theater an, sondern eher wie eine
locker komponierte Revue. Aber eben wie eine, die man, wäre sie ein Buch,
gern gleich noch einmal gelesen hätte, um sie in allen Zwischentönen zu
durchdringen – und die das Publikum gar nicht loslassen mag, als es dann
durchgerüttelt und begeistert hinausstolpert in die Münchner Sommernacht.
Was zuvor geschah: Schorsch Kamerun erklärt sich an diesem Abend zunächst
selbst, er sei der „Abendspielleiter“, sagt er, sein Ziel: „Togetherness�…
Als solcher moderiert er Teil-Acts an, die alle für sich genommen
„Gemeinsamkeitsprofis“ seien. Sein „Experiment der kollektiven Öffnung“
setzt er spalterischen Tendenzen und Entfremdung entgegen: „Wie wollen wir
als Gesellschaft zu einer [2][‚direkten Beteiligung‘ (Habermas)] kommen, in
einer Sprache, die ein annehmbares WIR beschreibt?“, fragt das
Programmheft. Kamerun gibt die Antwort.
## Dreigroschenoper mit Grandezza
Die bald 86-jährigen Kessler-Zwillinge sind mit dabei. Sie schmettern den
Barbarasong aus [3][Bertolt Brechts] Dreigroschenopper von 1928 mit
Grandezza. Thema des Songs ist das Aufbegehren gegen die Perfidie einer
untergegangenen Zeit: „Und wenn er Geld hat / Und wenn er nett ist / Und
sein Kragen ist auch werktags rein / Und wenn er weiß, was sich bei einer
Dame schickt /Dann sage ich ihm ‚nein‘“ – freilich nur, um dann mit ein…
Player abzustürzen, der keine bürgerlichen Eigenschaften besitzt, aber
Nonchalance.
Die Münchner Sängerin QUEEN Lizzy rappt mehrmals – kämpft allerdings trotz
ihrer beeindruckend souligen Stimme gegen eine zu laut ausgesteuerte
Begleitmusik, sodass Textteile akustisch verloren gehen. Eine Schulklasse
aus jungen Frauen skandiert auf Pulten stehend die Vorwürfe der kommenden
Entscheidergeneration gegen die jetzige. Oder klappert einen harten
Rhythmus mit Büroutensilien wie Tackern und Scheren.
Die „Mikro-Girls“ (darunter Elisa Arnolds, Hannah Chioma Ekezie und Sophie
Colindres) kennt man schon aus einer früheren Produktion der Spielzeit 2022
des zum Residenztheater gehörenden Marstalls: In „Ist mein Mikro an?“ von
Jordan Tannahill spielten sie den Kampf der heute 19-jährigen Greta
Thunberg um Klimagerechtigkeit nach.
Beeindruckend sind auch das Kostüm- und Bühnendesign (Katja Eichbaum):
Sechs mannshohe Wasserbälle schweben in die Luft, Trockennebel und blaues
Licht umwabern eine 20er-Jahre-Diva (Juliana Zara) mit
Koloratursopranstimme, Glitzerkleid, Wasserwelle und dramatischem Gestus.
Eine versehrte Hausfrau im Blumenkleid (Katja Jung), die ihre große Wunde
auf der Wange mit einem Heftpflaster verklebt hat, irrt durch die Kulissen
und faselt überfordert davon, wie gern sie ihre „Komfortzone“ verlassen
hätte, eigentlich, denn man müsse doch mal „um die Ecke schauen“,
eigentlich.
## „Synchron atmen wie eine kanadische Gasturbine“
Ein Chor um Schorsch Kamerun bringt eine eingängige Melodie gegen Hetzer
vor („Du bist so he-rab-lassend – da-bei so un-un-passend! Wir, wir
brauchen nichts, nicht von dir“), das Publikum darf mitsingen, seinem
Sitznachbarn Komplimente aussprechen, „synchron atmen wie eine kanadische
Gasturbine“ (Kamerun) und gern mit dem Handy filmen.
Neben den Zeitebenen – von Kessler-Schwestern bis Thunberg – verschränken
sich die Räume: Teilweise findet die Show vor dem Residenztheater statt.
Eine riesige Luftskulptur mit Armen und Augen wird aufgeblasen, kurz zum
Mittelpunkt eines Tanz-Flashmobs – und fällt in sich zusammen.
Eine Seiltänzerin legt per Tau einen Bogen zwischen Stadt und Theater. Eine
gefiederte Vogelfrau (Mareike Beykirch) rast als wild gewordene Papagena
herum und interagiert mit überwiegend amüsierten Passanten: „Es ist so
schön, wenn es hier um uns geht und nicht um mich!“
Den Kopf kann man nicht unbedingt gebrauchen an diesem Abend. Musik und
Texte gehen direkt ins vom Lockdown angestaubte Herz. Die Eindrücke
verweilen angenehm kurz, weil dann schon der nächste irre Akt über die
Bühne oder durch die Stadt wirbelt. Zuletzt aber bleibt, wie es im Stück
heißt: das wiedererwachte Bewusstsein für die „Schönheit von Bildern, die
nicht in Tarnfarben gemalt sind“.
26 Jul 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Johanna Schmeller
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