# taz.de -- Brechts „Im Dickicht der Städte“: Das seltsamste aller Tiere | |
> Christopher Rüping inszeniert Brecht in München. Seine Annäherung ist | |
> maximal spielerisch und dreht sich um die Vereinzelung des Menschen. | |
Bild: Im Dickicht der Städte. v. li. Christian Löber, Gro Swantje Kohlhof | |
Seine erste Message hat der Abend ins Foyer der Kammerspiele München | |
ausgelagert. Gro Swantje Kohlhof sitzt dort in einer durchsichtigen Kugel | |
und starrt auf ihr Handy. Das Außen interessiert sie nicht mehr. Ihre ganze | |
Welt steckt im Gerät. | |
Kollege Christian Löber geht es nicht anders. Auch er steckt in der Blase | |
und wird in der Zweitvorstellung von Christopher Rüpings Version von | |
Bertolt Brechts „Im Dickicht der Städte“ von einer freundlichen Jelena | |
Kuljić und einer Kamerafrau sekundiert. Die schicken Live-Bilder von | |
Zuschauern auf die Bühne, zu denen Julia Riedler Geschichten erfindet. Eine | |
Frau teile ihre Einsamkeit mit Chopin, mutmaßt Riedler. Eine andere baue | |
absichtlich eine Mauer um sich auf – und die Zuschauerin nickt dazu. | |
Der junge Mann, dem die Conférencieuse attestiert, dass er sich jeden Abend | |
auf Partys herumtreibt, wird ihr später ins Gesicht spucken. Doch da ist | |
das Vorab-Geplänkel bereits vorbei und wir sind mitten im frühen | |
[1][Brecht-Stück], dem Rüping die These aufbindet, dass wir Menschlein | |
unsere existenzielle – von Internet- und anderen Bubbles allenfalls noch | |
verstärkte – Vereinzelung nur im Kampf zu überwinden vermögen. | |
## „Nur der Kampf bringt uns zusammen“ | |
Er, der Kampf, muss eine Art Substitut sein für die Sehnsucht nach Nähe, | |
für „die schwarze Sucht des Planeten: Fühlung zu bekommen“, wie es hier | |
heißt. „Nur der Kampf bringt uns zusammen“, ruft Riedler und läutet die | |
erste Runde ein. Sie ist eine Meisterin des Brückenschlags zwischen Bühne | |
und Zuschauerraum. Es ist immer wieder ein Ereignis, ihre Maske der | |
Selbstsicherheit binnen Sekunden zerbrechen zu sehen, wenn erst sie selbst | |
als Julia Riedler, die von der Publikums- zur Selbstanalyse übergegangen | |
ist, und dann der Holzhändler Shlink, den sie spielt, ihre Verletzlichkeit | |
nach außen kehren. | |
Der Abend hat einige derart wunderbare Momente, und alle haben sie mit den | |
Schauspielern zu tun. Mit Christian Löbers durchscheinender Zartheit als | |
Marie, der Schwester von Shlinks Kontrahenten Garga. Mit dem Schrecken, der | |
einen packt, wenn die nette Publikumsversteherin zu Shlink mutiert, der den | |
Büchereiangestellten, den anfangs der syrische Schauspieler Majd Feddah | |
spielt, ekelhaft rassistisch angräbt. Oder wenn die eben noch so trollige | |
Kohlhof als Garga den Shlink in den Zuschauerraum schickt, um jemanden zu | |
suchen, der ihm ins Gesicht spuckt. | |
## Der junge Brecht | |
Auch dass das so schnell und umstandslos gelingt, beweist: Der Mensch ist | |
das seltsamste aller Tiere, das sich mangels Fell eine dicke Haut wachsen | |
lässt. Auf den Füßen und der Seele. | |
Der junge Brecht hat das rätselhafte Handeln dieses Menschentiers, das sich | |
zur Menschheitsgeschichte summiert, in die Form eines Ringkampfes gepresst, | |
eines Kampfes um des Kampfes willen, bei dem es keine Sieger geben kann. | |
Und auch keine tieferen Beweggründe. Sein vor fast hundert Jahren im | |
Münchner Residenztheater uraufgeführtes „Dickicht“ ist ein chaotisches | |
Stück, aber mit Wumms, für das sein Autor die Empfehlung ausgibt, besser | |
nichts verstehen zu wollen, sondern sich „unparteiisch“ auf die Beurteilung | |
der „Kampfform der Gegner“ zu konzentrieren. | |
Rüpings Bühnenäquivalent ironisiert den Wumms und vergrößert das Chaos, | |
indem er Teile der Handlung unterschlägt und die mit schöner | |
Selbstverständlichkeit deutsch, englisch, serbisch und arabisch sprechenden | |
Akteure immer wieder die Rollen tauschen lässt. Dass dies vorwiegend | |
genderverkehrt passiert, erlaubt einen frischen Blick auf die | |
Konstruiertheit von Geschlechterbildern. Das Studium der „Kampfform“, das | |
Kontinuität voraussetzen würde, wird durch die häufigen Rollenwechsel | |
allerdings sabotiert. | |
Dass Brecht das Stück im Chicago des Jahres 1912 angesiedelt hat, wird | |
immer mal wieder aufgerufen. Doch auch das München des Jahres 2020 senkt | |
sich zwischendurch in Form von abfotografierten Fassaden der | |
Maximilianstraße auf die mit Rollkisten und Windmaschinen vollgestellte | |
Bühne von Jonathan Mertz herab. | |
In dieser raumzeitlich universalen Großstadt- und Theaterbastel-Kulisse | |
verlässt sich Rüping ganz auf die Individualität seiner Akteure und den | |
spielerischen, halbimprovisierten Ansatz, der seinem [2][Antikenprojekt | |
„Dionysos Stadt“] allerlei Preise und eine Einladung zum Berliner | |
Theatertreffen eingebracht hat. Doch der Glücksfall, der nicht Wenigen den | |
Glauben an die gemeinschaftsstiftende Kraft des Theaters zurückgab, | |
wiederholt sich nicht. Rüpings einsame Kämpfer schießen mit | |
Spielzeug-Blastern aufeinander und haben viel Spaß beim semiorgiastischen | |
Gruppenkuscheln unter einer riesigen Decke. Wo es sich nicht verläppert, | |
ist das sehr nett, aber für Brecht zu brav. | |
31 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Sabine Leucht | |
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