# taz.de -- René Pollesch am Deutschen Theater: Wie ein frischer Orangensaft | |
> Selbstreferenz, Sprachwolken und gute Witze: Der Regisseur und künftige | |
> Volksbühnenleiter René Pollesch feiert in seinem neuen Stück Grobi und | |
> Brecht. | |
Bild: Nur coole Typen sehen immer cool aus: Wuttke, Peschel, Mockridge etc. bei… | |
Es gibt einen großartigen Sesamstraßen-Sketch, in dem Grobi die | |
Präpositionen erklärt. Seine zotteligen Füße schrubben hörbar über den | |
Boden, während er eifrig um eine frei im Raum stehende Saloontür kreist und | |
dazu singt: „Herum, herum, herum, herum. Über, unter und durch!“ | |
Das Kreisen ist kräftezehrend, darum ist Grobi ziemlich außer Puste, als er | |
zum zweiten Teil ansetzt: „Nah!“, schreit er und hält das blaue Fellgesicht | |
in die Kamera, stratzt nach hinten und schreit von dort aus: „Fern!“ Und | |
immer so weiter, und immer so weiter. Bis jedes Vorschulkind es kapiert. | |
Man kann Martin Wuttke selbstredend nicht mit Grobi vergleichen. (Obwohl | |
das für beide eventuell komplimentierend wäre.) Dennoch hat nicht nur diese | |
im neuen [1][René-Pollesch]-Stück „(Life on earth can be sweet) Donna“ | |
enthaltene Szene, in der Wuttke in blauseidenem Mantel und weißen | |
Cowboystiefeln eng am Mitspieler Milan Peschel „Nah!“ und weit hinten im | |
Raum „Weit weg!“ deklamiert, und dies immer und immer wieder tut, immer und | |
immer wieder über die mit Kulissenwänden voll gestellte Bühne stratzt, bis | |
sich das Publikum kringelt vor Lachen, und Wuttke dringend eine rauchen | |
muss, einen ähnlichen Groove wie der Sketch. | |
Denn was Pollesch durch das Werk erschafft, das am Montag zum zweiten Mal | |
im Deutschen Theater aufgeführt wurde, ist – genau wie bei der besten | |
Vorschulsendung aller Zeiten – ein lehrreicher, aber von jeglicher Didaktik | |
befreiter Zugang zu den Wahrheiten des Lebens. Es geht schließlich, und da | |
gehört zum Verkleiden der Didaktik einiges an Wagemut, um Bertolt Brecht. | |
Pollesch, dem Brecht in all seinen Stücken mindestens im Hals, wenn nicht | |
noch tiefer steckte, beschäftigt sich mit der „Straßenszene als Modell für | |
episches Theater“, so wie Brecht sie beschrieb: „Der Augenzeuge eines | |
Verkehrsunfalls demonstriert einer Menschenansammlung, wie das Unglück | |
passierte“, erklärte der 1938. Und darüber reden die fünf | |
Schauspieler*innen Wuttke, Peschel, Bernd Moss, Judith Hoffmann und Jeremy | |
Mockridge ohne Unterlass. | |
## Dreh-und-Shake-Bühne | |
Über die Tatsache, dass man mit dieser Art Szene eben keine | |
theatertypischen Illusionen erzeugen möchte, wird sich genauso ausgelassen | |
wie über die Art und Weise der Demonstration: „Angenommen, er ist nicht | |
imstande, eine so schnelle Bewegung auszuführen, wie der Verunglückte, den | |
er nachahmt, so braucht er nur erläuternd zu sagen: er bewegte sich dreimal | |
so schnell, und seine Demonstration ist nicht wesentlich geschädigt oder | |
entwertet“, so hieß es bei Brecht, und die Truppe spielt auf der von Anna | |
Viebrock gestalteten Dreh-und-Shake-Bühne mit dieser Weisheit – denn die | |
lässt sich hervorragend auf die im epischen Theater verpönte | |
Gefühlsdarstellung übertragen: „Ich muss ja nur sagen, dass ich fünfmal so | |
wütend oder siebenmal so glücklich war“, und schon hat man sie wieder | |
hergestellt, die echte Wahrheit. | |
Es ähnelt einem riesengroßen frisch gepressten, erfrischenden | |
Mega-Orangensaft, was Pollesch alles aus der Straßenszenen-Idee | |
herausquetscht. Mal stecken drei der Performer*innen in bunten kleinen | |
Pappautokostümen und geben der Straßenszene damit eine neue Konnotation: | |
„Einen Unfall als Auto nachspielen ist doch eher ein Kostümfilm“, verkünd… | |
Wuttke. Mal wird mit den Bildassoziationen gealbert, die sich (zumindest | |
manchen) aufdrängen, wenn die Automenschen mit den Pappmaché-Metall-Armen | |
wedeln: „Ich bin kein Performer, ich bin Transformer!“ | |
Passend zum Überthema läuft immer wieder „Drive“ von The Cars – deren | |
Sänger Ric Ocasek starb übrigens im September dieses Jahres, genau wie | |
[2][Daniel Johnston], dessen grandioses Liebeslied „True love will find you | |
in the end“ den anderen musikalischen Höhepunkt der Sause bildet. | |
Und wenn man diese beiden Pole, „Drive“ als Symbol für die Straßenszene u… | |
das epische Theater und „True love will find you in the end“ für das | |
emotionale dramatische Theater, gelten und sich dann auch noch auf der | |
Zunge zergehen lässt, dass beide Songs aus dem gleichen Jahr (1984) | |
stammen, dann macht das fidele Palavern von Polleschs ebenso fidelem Cast | |
sogar noch mehr Fetz. | |
Dass das Stück sich ab und an in der Selbstreferenz zu verlieren droht, | |
etwa wenn Wuttke und Peschel zum Vergnügen des Publikums darüber sprechen, | |
was sie „alles mit an die Volksbühne“ nehmen werden oder wie „alt die | |
Menschen an der Volksbühne“ werden, knickknack, das sei verziehen: Es sind | |
bestimmt noch nicht alle Castorf-Witze gemacht, erst recht nicht vom | |
designierten neuen Volksbühnen-Intendanten Pollesch. | |
Man sollte bei „(Life on earth can be sweet) Donna“, das sich übrigens in | |
einer der wie üblich mäandernden Sprachwolken angeblich auf die | |
US-amerikanische Feministin Donna Haraway bezieht, (aber vielleicht ist das | |
ja bei dem Tempo unter den Tisch gefallen), jedenfalls unbedingt ein paar | |
Sätze mitschreiben. Zum Beispiel: „Das Wichtige passiert immer nebenan.“ | |
Oder: „Durch die Straßenszene entziehen wir unsere Leidenschaft der | |
Verwertung.“ Das ist nämlich auch ein Effekt des epischen Theaters: Anstatt | |
„Gefühle zu ermöglichen“, erzwingt es vom Zuschauer „Entscheidungen“.… | |
erste ist relevant, doch erst das zweite verändert die Welt. | |
18 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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