# taz.de -- „Die Pest“ am Deutschen Theater Berlin: Das menschliche Handeln | |
> Die Gegenwart verändert die Kunst. Das erlebt man in Berlin am Stück „Die | |
> Pest“, das ein Schauspieler durch ein leeres Haus nach draußen trägt. | |
Bild: Vorbereitung der Open Air Bühne für „Die Pest“ vor dem Deutschen Th… | |
Der Ventilator fehlt auf der Bühne, die auf dem Vorplatz des Deutschen | |
Theaters steht, und dann fehlt er doch nicht. Wer [1][„Die Pest“ in der Box | |
des DT], die am 15. November 2019 Premiere hatte, gesehen hat, erinnert | |
sich an den langen Augenblick, als Božidar Kocevski aus einem schwarzen | |
Sack Unmengen von dunklen Papierstreifen nimmt und sie gegen den Ventilator | |
schleudert. Immer mehr davon verfangen sich in dem Gerät, bis der | |
Ventilator bedeckt ist von einer schwarzen Schicht, die klebrig, | |
unansehnlich und so eklig erscheint. | |
Das Bild von der Asche der verbrannten Pesttoten, von Fliegen, die summen, | |
und der Hitze in der algerischen Küstenstadt Oran ist jetzt im Kopf. Als | |
Kocevski später an seinem ausgestreckten Arm einen Kinderstuhl hält und | |
hält, es Asche auf den Stuhl regnet, sieht man ein Kind sterben und spürt | |
es physisch. | |
András Dömötörs Inszenierung nach Albert Camus’ Roman, in dem er | |
beschreibt, wie in Oran mitten im 20. Jahrhundert die Pest ausbricht, ließ | |
einen schon [2][vor dem allgemeinen Lockdown] nicht kalt. So stellt Camus | |
1947 vor dem Hintergrund des 2. Weltkrieges explizit zeitlose Fragen zum | |
menschlichen Handeln an sich. | |
## Das leere Theater wird zur Metapher | |
So nimmt im Roman Doktor Rieux als Arzt den Kampf mit der Pest auf und | |
setzt in einer Situation, in der sich eine Gesellschaft aller | |
zivilisatorischen Werte entledigt, alles daran, mit Anstand Mensch zu | |
bleiben. Dömötörs Inszenierung wiederum bleibt konzentriert bei Camus. Und | |
Božidar Kocevski überzeugt durch Präsenz und Schauspielkunst. | |
Während der coronabedingten Schließung des Theaters hat der Schauspieler | |
den Text von András Dömötör und Enikö Deés gleich und doch anders | |
präsentiert. Dauerte die Inszenierung 85 Minuten, so bewältigt Kocevski im | |
Film die Textmasse in einer knappen Stunde. Zu Hause vor dem Bildschirm | |
folgt man ihm durch ein leeres Theater. Wie in der Box schlüpft er in | |
unterschiedliche Charaktere und verkörpert doch immer die Hauptfigur: | |
Doktor Rieux. | |
Dem wandernden Schauspieler zuhörend, erfährt man von der pestbedingten | |
Schließung der Stadt Oran und kann nicht anders, als in dem verwaisten | |
Theater eine direkte Metapher zu sehen. Als Kocevski dann die von der Stadt | |
erzwungene Opernaufführung beschreibt, steht er im ersten Rang des | |
Deutschen Theaters zwischen den mit einem Staubschutz bedeckten | |
Stuhlreihen. | |
## Der geschlossene Vorhang | |
„Der Sänger wählte diesen Moment, um in seinem antiken Kostüm an die Rampe | |
zu treten und inmitten dieser pastoralen Kulisse zusammenzubrechen. Im | |
selben Moment verstummte das Orchester. Die Leute im Parkett standen auf | |
und räumten den Saal. Die Bewegungen überstürzten sich, das Geflüster wurde | |
zum Geschrei und schließlich strömte die Menge zu den Ausgängen“, weiß | |
Camus’ Erzähler zu berichten. | |
Zusammen mit Kocevski sieht man hinunter auf das Parkett, hinüber zur Bühne | |
mit dem geschlossenen eisernen Vorhang und hat das von ihm beschriebene | |
Szenario viel deutlicher vor Augen, als man es dort haben möchte. Und | |
beobachtet an sich selbst, dass sich mit der aktuellen Infragestellung der | |
Verfasstheit der globalen Gesellschaft die persönliche Wahrnehmung extrem | |
verändert hat. | |
Am [3][9. Juni hat das Deutsche Theater] das erste Mal seit drei Monaten | |
wieder gespielt. Momentan befinden sich die Bretter, die die Welt bedeuten, | |
auf dem Vorplatz. Davor 70 Stühle und viel, viel Platz. Was auf der | |
schwarzen Bühne, die wie ein Ausschnitt der Box wirkt, gezeigt werden kann, | |
ist „Die Pest“. Weil hier coronakompatibel nur ein Schauspieler auf der | |
Bühne steht. Božidar Kocevski blickt vom oberen Foyer hinunter auf den | |
Vorplatz, tritt ans Fenster und unten wird es still. Kurz sieht man ihn | |
noch dort oben, dann erfüllt seine Stimme den Platz. | |
Saß er in der Box anfangs mit dem Rücken zum Publikum und hat so die Bürger | |
Orans vor dem Pestausbruch beschrieben, so erzeugt jetzt seine Stimme, die | |
über Lautsprecher verbreitet wird, eine Omnipräsenz. | |
Dann ist er auf der Bühne. Es ist dieselbe Inszenierung. Nur der Ventilator | |
fehlt. Das macht nichts. Denn Kocevskis Energie strömt auf den Platz. Die | |
Vögel zwitschern und der Himmel ist blau. Immer mehr Stühle liegen auf dem | |
Bühnenboden und stehen für Tod. Dann hebt der Schauspieler den Kinderstuhl | |
hoch. Er hält ihn und hält ihn. Und legt ihn dann sanft auf den Boden. Es | |
ist definitiv ein anderes Zuschauen nach dieser erzwungenen langen | |
Theaterabstinenz. Es ist bewusster als vorher und dankbarer. Dieser | |
Theaterabend wird bleiben. Wegen der besonderen Umstände, aber vor allem | |
auch wegen seiner Relevanz. Inhaltlich und ästhetisch. | |
12 Jun 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.deutschestheater.de/programm/a-z/die-pest/ | |
[2] /Corona-und-die-Kulturlandschaft/!5667409 | |
[3] /Berliner-Sommertheater-und-Corona/!5690808 | |
## AUTOREN | |
Katja Kollmann | |
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