# taz.de -- René Pollesch im Friedrichstadt-Palast: Im Gleichschritt einsam se… | |
> Diskursrevue mit Lasershow: René Pollesch inszeniert im Berliner | |
> Friedrichstadt-Palast „Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung | |
> der Welt“. | |
Bild: Die professionellen Tänzer um Fabian Hinrichs (in Gold) dürfen nur selt… | |
Dann geh doch zu Netto, das würde man gern rufen, so wie das kleine Mädchen | |
in dem Werbespot. Man würde es gern Fabian Hinrichs zurufen, der sich da | |
vorn, auf der Bühne des Friedrichstadt-Palasts auslässt, über Netto, über | |
Preise, über Kapitalismus und über die Einsamkeit. Aber wenn hier einer | |
irgendetwas rufen darf, ist das allein Hinrichs. Das macht er schließlich | |
stets hervorragend in René Polleschs theatralischen Textapparaturen, | |
diesen opulenten Gedankenschleifen, die immer ein bisschen so klingen, als | |
seien sie zu 50 Prozent den Koksern und Kokserinnen am Nebentisch | |
abgelauscht worden, weisen Menschen mit rennenden Hirnen, die um 5 Uhr | |
morgens felsenfest überzeugt davon sind, das Geheimnis des Lebens | |
entschlüsselt zu haben. | |
Und diese um jene Uhrzeit wachsende, zum „Jahrhundert Palast“ mit seiner | |
legendären Vergangenheit passende Gigantomanie kann ja durchaus | |
unterhaltsam sein. Wenn jemand alles ins Maßlose übersteigert, nicht | |
aufhört zu reden, es zu groß, zu schrill, zu viel denkt, dann bekommen die | |
Dinge ein neues Format, „too much of a good thing is wonderful“, hat auch | |
Liberace gesagt. | |
Das Gigantische am „Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der | |
Welt“ ist die Idee, diesen im Gleichklang mit [1][dem designierten | |
Volksbühnen-Intendanten Pollesch] schwingenden Schauspieler und Interpreten | |
Hinrichs ohne Mikrofon, Respekt!, über die monumentale Palastbühne fegen | |
(zuweilen: zu humpeln, es gab bei der Premiere am Mittwoch ein kleines | |
Fuß-verknackst-Problem) zu lassen, ihn damit seinem üblichen, hochkulturell | |
sicheren Theater-Habitat zu entreißen und quasi dem | |
Mainstream-Entertainment-Revue-GrandShow-Zirkel zum Fraß vorzuwerfen. | |
## Irritierend musikloser Cancan | |
Notdürftig umrahmt von einer „Chorus Line“ an Tänzer*innen, die nur ein | |
einziges Mal tatsächlich die „Kickline“ zeigen und mit Hinrichs in der | |
Mitte einen wilden, irritierend musiklosen Cancan wagen. Hinrichs, so | |
charismatisch er ist, verliert sich zunächst bewusst im Amphitheater, | |
wandert allein, gekleidet in drei verschiedene glänzende Revuekostüme | |
gleichzeitig, die Bühne auf und ab, und redet von der Tiefe, von der | |
Einsamkeit. | |
Eine Lasershow und Musik setzen ein, Hinrichs schwingt an einem Pendel über | |
die Fläche, die Laser durchforsten den Raum, machen ihn mehrdimensional und | |
noch riesenhafter, lassen den Schauspieler fast verschwinden. Dann kommen | |
die Tänzer*innen. Das ist lustig und traurig: absurd, im Gleichschritt | |
einsam zu sein. | |
Doch dann bleibt es so für die nächsten 90 Minuten: Es geht um die | |
Einsamkeit der Kindheit, die Einsamkeit inmitten von Menschen, um die Suche | |
nach dem Zuhause, das helfen sollte, die Einsamkeit zu ertragen. Pollesch | |
und Hinrichs bewegt die Frage, wie es möglich ist, dass alle Besucher*innen | |
eines Konzerts (und damit auch die zirka 1.500-köpfige Kollektivität des | |
Publikums in diesem Theater) die gleiche Einsamkeit empfinden, die der | |
Sänger zum Ausdruck bringt – haben die alle kein Zuhause?! | |
## Wieso machen wir alle Selfies? | |
Der Gedanke macht ein paar kurze Runden und verfliegt. „Zalando ist doch | |
kein Zuhause!“, ruft Hinrichs später und haut mit den Tänzer*innen | |
wütend in die Luft, „Kapitalismus ist doch kein Zuhause!“ Sie wird teils in | |
hübsch zitierfähige Apercus gepackt, die Einsamkeit: „Wieso machen wir alle | |
Selfies? Weil sonst keiner da ist.“ Der Bolero läuft, und die | |
Tänzer*innen zeigen einen klitzekleinen Teil von dem, was sie drauf | |
haben. Später liegen Hinrichs und die Tänzer*innen unter einer | |
Treppenbrücke aus Licht, jedoch verschiebt die Brücke sich ständig, sogar | |
dieses Zuhause ist flüchtig. „Nur Gefängniswärter haben etwas gegen | |
Eskapismus“, sagt Hinrichs danach in einem Monolog. | |
Dennoch reiben sich die Lässigkeit und scheinbare Erratik, mit der Pollesch | |
und Hinrichs ihre Texte präsentieren, die eigenwilligen | |
Betonungsauffälligkeiten des auratischen Schauspielers, seine energische | |
Art, sich die Bühne zu nehmen, und die wie ironische Kommentare | |
eingesetzten 80er-Jahre-Hits nicht wirklich stark mit dem Nimbus des | |
Hauses. Jedenfalls nicht stark genug. | |
Denn so richtig kann man nicht verstehen, wie die Welt erneuert werden | |
soll, wenn doch nicht einmal ernsthaft in sie hineingeguckt wird, wenn nur | |
Schlagworte (Kindheit, Einsamkeit, Verwertungslogik, Brücke) die | |
Atmosphäre, die dringend notwendige Relevanz für alle bilden sollen. Sonst | |
hatte einen ja immer schon die schiere Flut von Polleschs Getexte | |
weggeblasen, gestützt von vielen, vielen prägnanten Gedanken – aber hier, | |
unterbrochen von Van Halens „Jump“, Céline Dions „All By Myself“ und v… | |
der Choreografie, schwächt sich die Wirkung ab. Sie zerfasert und demoliert | |
die Lust zur Rekonstruktion der Ursprungsidee. Erneuert ist die Welt | |
jedenfalls danach nicht. Dabei hätte sie das bitter nötig. | |
11 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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