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# taz.de -- Theatertreffen Berlin 2019: Gewimmel im Kopf des Dichters
> Ritual erfolgreich absolviert: Mit einem beklemmenden Stück über Kinder
> im Krieg ging das Theatertreffen in Berlin zu Ende.
Bild: Szene aus der Dresdner Inszenierung „Erniedrigte und Beleidigte“
Das nimmt mit. Das zieht stampfend durch Zuschauerhirn und Zuschauerkörper.
Wie sich die Jungmännerschar Schritt für Schritt gegen den rotierenden
Boden der hydraulischen Drehbühnen stemmt, gegen die Schräge, gegen den
drohenden Sturz, die Muskeln gespannt, glänzend vor Schweiß.
Das riecht nach Fußballmannschaft, aber gespielt wird von den 16
Darstellern mit der Sprache, kurzen harten Sätzen. Das Theater von Ulrich
Rasche ist ein düsteres Erlebnis. Mit seiner Inszenierung vom
Staatsschauspiel Dresden, „Das große Heft“ nach dem Roman von Ágota
Kristóf, endete das diesjährige Theatertreffen in Berlin.
Wie Kinder im Krieg überleben, davon erzählt Kristófs Roman und damit über
einen Schrecken, der immer Gegenwart scheint. Zwei Zwillingsbrüder, zur
Großmutter aufs Land gebracht, versuchen sich hart zu machen, keine
Schmerzen mehr zu fühlen, das Töten zu üben, Gefühle aus ihrer Sprache zu
streichen. Um jeden Preis nicht zu den Schwachen zu gehören. Aber es
gelingt ihnen nicht, sie werden trotzdem Verlierer sein.
In Rasches Inszenierung wird aus dem Zwillings-Paar eine Horde, lauernd und
gefährlich, aber auch verwundbar und unentwegt getrieben. Sie reden einzeln
oder im Chor. Besonders in der zweiten Hälfte, wenn die Brüder von Szenen
sexueller Gewalt in ihren kalten protokollarischen Sätzen berichten und die
jungen Männer sich dabei immer weiter gehend die Arme um die entblößten
Schultern legen, ist dies von bedrängender Intensität und Intimität. Dieses
Stück nagelt einen fest im Theatersitz.
## Ein vorbereitetes Spiel
Da tut es gut, sich zurückzuerinnern an das „Oratorium“ von She She Pop.
Selten lässt man sich so bereitwillig aus der passiven Zuschauerrolle
befreien wie in diesem Stück des Berliner Performance-Kollektivs. Auch hier
wird im Chor gesprochen, aber vom Publikum. Es liest vorbereitete
Texttafeln laut mit; davor muss jeder entscheiden, ob er zur Gruppe der
Sprechenden gehört, zu den alleinerziehenden Müttern, den arbeitslosen
jungen Männern, den Erben, den Wohnungsbesitzenden.
So bastelt man, mit präparierten Textbausteinen, an einem sozialen und
ökonomischen Gruppenporträt. Das große Thema der Kritik an kapitalistischen
Strukturen und der Stadt als Spekulationsobjekt wird dabei pädagogisch in
Partytalk-gerechte Schnipsel zerlegt. Man geht ein wenig geläutert aus
dieser Erfahrung hervor, fast wie aus einer Beichte im Schutzraum des
Zuschauerkollektivs.
## Tartuffes Bedürfnisse
„Oratorium“ ist nah an einem Diskurs gestrickt, der neue politische
Bewegungen hervorbringt, wie die jüngsten „Enteignet Deutsche
Wohnen“-Kampagnen in Berlin. Nah an der Sprache eines eines politischen und
akademischen Diskurses, der sich um Wahrheit und Fake, Sexualität und
Gender dreht, war „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“ gebaut, eine
Inszenierung von Claudia Bauer, am Theater Basel herausgebracht. Molières
Komödie um einen religiösen Heuchler wurde dafür von PeterLicht
umgeschrieben. Hier ist Tartuffe ein Sex-Guru und Workshop-Leiter, der
jeden dahingehend coacht, Tartuffes Bedürfnisse zu befriedigen.
Viel konnte man von diesem Autoren-Regie-Gespann erwarten, schon mehrfach
war Claudia Bauer mit großartigen Inszenierungen zum Theatertreffen
eingeladen. Die Kostüme sind bunt, barock und genderverwirrend, alles
stellt sich auf Clownerie und Komödie ein, aber dann kommen
PeterLicht-Sätze angerollt, endlos geschraubt, tänzelnd zwischen eigentlich
und uneigentlich, bis man nur noch Ohr ist und das angespannte
Verstehensvermögen der Geschwindigkeit des Sprechens kaum zu folgen vermag.
Es ist ein bisschen wie Molière und Pollesch im Küchenmixer verquirlt, ein
Wortungetüm wie süßer bonbonfarbener Brei, von dem man nach der Vorspeise
schon genug hat, aber es kommen noch fünf Gänge.
## Zweimal Theater aus Dresden
Zehn Stücke wählt die Kritikerjury für das Theatertreffen aus; dass ein
Theater mit zwei Inszenierungen dabei ist, ist selten und eine
Auszeichnung. Aus Dresden kam neben dem „Großen Heft“ eine weitere
Romanadaption, „Erniedrigte und Beleidigte“ nach Dostojewski, von Sebastian
Hartmann in einer visuell inspirierenden Form erzählt.
Diesmal attackiert dieser auch berüchtigte Regisseur sein Publikum nicht
mit Schocks, Gebrüll oder kaum aushaltbaren Bildern gedemütigter Frauen.
Nein, diesmal lässt er uns eintauchen in die allmähliche Verfertigung von
Figuren, Gedanken, Geschichten und Bildern. Wie bei einem Puzzle setzt sich
das nach und nach zusammen, und was anfangs ein verworrenes Knäuel von
Erzählfäden war, dröselt sich auf.
Auch hier sind die Schauspieler ständig in Bewegung, rennen in Kreisen und
Spiralen umeinander, erklimmen Leitern vor einer hohen Leinwand, schleppen
Farbeimer, ziehen sich an und aus. Statt Konzentration und Engführung der
Gedanken wie bei Rasche ist hier Zerstreuung und Simultanität das Prinzip.
Eine dramatische Landschaft in Schwarz-Weiß entsteht, sich wieder und
wieder verändernd, auf der Leinwand, ein einsames Kind im Mittelpunkt.
Auch die Theaterfiguren tänzeln davor in schwarzen und weißen Kleidern,
Charaktere schälen sich langsam heraus, der junge Dichter, der nach einem
neuen Realismus sucht, der selbstsüchtige Vater, der seinen Sohn an eine
reiche Braut verheiraten will, verlassene Töchter, sterbende Waisenkinder,
verwirrte Exhibitionisten.
## Verirrung, Verwirrung
Am Ende bekommt man vier, fünf Geschichten auf Reihe, Episoden aus dem
Roman, oder auch nicht. Aber selbst dann ist man eingetaucht in einen
Prozess der Erfindung von Bildern und Figuren, die sich in ständigem
Abgleich mit existenziellen und philosophischen Fragen nicht auf einen
Punkt bringen lassen, sondern abirren, sich verlaufen, neu entwerfen. Das
ist, als schaue man in den offenen Schädel eines Dichters, der sich seiner
Sache nicht sicher ist.
Kann sich eine Kritikerjury jemals sicher sein, tatsächlich die zehn
bemerkenswertesten Inszenierungen, wie es seit Jahrzehnten in der
Selbstdarstellung heißt, für das Theatertreffen eingeladen zu haben?
Natürlich nicht. Aber das ist einen lohnende Fiktion trotzdem, die hilft.
Denn nachdenkswert sind die Stücke allemale, die sieben Menschen, die viel
gesehen haben, schließlich ausgewählt haben. Ritual erfolgreich absolviert.
22 May 2019
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Theatertreffen Berlin
Ulrich Rasche
She She Pop
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