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# taz.de -- Regisseurin Leonie Böhm: Durch Pfützen mit Gefühl
> Die Regisseurin Leonie Böhm glaubt an den mündigen Menschen. Ihre sehr
> freien Klassikerbearbeitungen sind Mutmachtheater für Erwachsene.
Bild: Seit 2019 fest in Zürich: Regisseurin Leonie Böhm
Leonie Böhms „Yung Faust“ ist voller betörender Details. Benjamin
Radjaipour, der Sade Adus „This is no ordinary love“ singt wie Honig und
Feuer zugleich. Julia Riedler, dicht an der Rampe der kleinsten Spielstätte
der Münchner Kammerspiele mit Fausts „Zwei Seelen“-Monolog kämpfend und
nicht verhehlend, wie sehr es sie dabei würgt: Ein borstiges Ereignis! Und
schließlich Annette Paulmann, die sich in Bomberjacke und ältlicher Brille
plötzlich in einer unwahrscheinlichen, unglaublich zärtlichen Liebesszene
wiederfindet.
Jeder hat hier ein bisschen was von Faust-Mephisto-Gretchen. Jeder spricht
Goethe-Sätze und macht auf Cloud Rap, dabbend und „skrrt“end. Jeder wird
hier in einer Zierbrunnenpfütze nass. Und vom Urdrama bleibt nur der Hunger
nach ewiger Jugend, Liebe, Lust. „Gefühl ist alles“, sagt Goethe im
Programmheft. Hexenküche rules! Aber irgendwie verliert der kurze Abend
zwischen toll-wilden Szenen immer wieder die Spannung. Weil er alles nur
anzitiert. Auch die Cloud- Rap-Moves und -Adlibs. Ja, räumt Leonie Böhm im
Gespräch später ein. Aus ihrer Ursprungs-Idee, den Rapper Yung Hurn in ihre
Inszenierung einzubeziehen, wurde nichts. „Aber sie ist mit ins Stück
geschwappt“ und Teil des Zeichensystems geworden, dessen sich die Spieler
bedienen. Sie als Regisseurin gebe dem Ganzen „einen Fahrplan. Die Vorgänge
selbst, ihre Stimmung und Energie, können sich jeden Abend verändern“.
Das ist riskant, aber der Preis für das freie, eigenverantwortliche Spiels,
das die 1982 in Stuttgart Geborene so liebt. Zum Regiestudium an der
Hamburger Hochschule für Musik und Theater ist sie bereits mit einem
abgeschlossenen Lehramts- und Kunststudium angetreten. Theater aber musste
dringend auch noch sein, als „Experimentierraum für soziales Miteinander,
hinter dem sich auch ein Vorschlag an den Zuschauer verbirgt“. Große Worte!
Wir treffen uns in der Kantine der Münchner Kammerspiele, einen Tag vor der
Premiere ihrer zweiten Inszenierung dort: „Die Räuberinnen“ nach Schiller.
Böhm ist ernst, aber entspannt: Die Generalprobe ist vorbei. Jetzt liegt
die Verantwortung bei ihren Spielerinnen, die sie von Probenbeginn an
einlädt, „die Texte zu scannen nach Fragestellungen und Funktionen, die an
ihre Rolle gebunden sind – und sich ihre Handlungsbögen mit zu
komponieren“. Die Texte sind gerne von Goethe, Shakespeare, Lessing und Co.
Klassiker mag sie, weil bei ihnen „das Vorwissen der Zuschauer die Abende
mitkomponiert“ und man so leicht auf ganze Handlungsstränge verzichten
und/oder „auf einzelnen Gedanken herumreiten“ kann. Je nachdem, was die
Proben ergeben. In ihrem Fokus steht „die Handlungsfähigkeit der
Spielerinnen“ – auch im Umgang mit der Livesituation. Sieht man Gro Swantje
Kohlhof, Sophie Krauss, Eva Löbau und Julia Riedler mit der Musikerin
Friederike Ernst von „Schnipo Schranke“ die Bühne erobern, wird sofort
klar, was sie damit meint: Alles wirkt frisch, wie gerade im Moment gedacht
und empfunden.
## Weg mit den Plüsch-Kostümen!
Unter einer rosa Wolke aus Stoff, die sich im Laufe des Abends verfärbt und
entleert, singen sie zu Beginn ein schräges Mädchenlied, in dem sich „Pups�…
auf „oops“ reimt und „Hier bin ich immer erster“ auf „denn ich war zu…
da“. Die plüschigen Kostüme, die sie im Trailer noch trugen, haben sie
abgelegt – „Wir haben keinen Umgang damit gefunden“, sagt Böhm –, die
plüschige Haltung durchbricht Kohlhof mit großem Furor: „Wir haben uns den
Zweck vorgezeichnet, das Laster zu stürzen“, schmettert sie in Abwandlung
zu Schillers Vorrede zum Stück.
Das Laster „in seiner nackten Abscheulichkeit“ aber haben Böhm und ihr
erstmals auch hinter den Kulissen rein weibliches Team ausgespart. Verrat,
Räuberbande, allerlei Tote: Alles gestrichen! Stattdessen zeigen sie uns
und einander ihre Schwächen. Löbau erfindet eine herrliche Geschichte mit
Trekkingsandalen und seltenen körperlichen Defekten, um das
Nicht-Gesehen-Werden des ungeliebten Franz Moor plastisch zu machen.
Riedler enthüllt Karls smarte Herrlichkeit als fragiles narzisstisches
Konstrukt. Alle sehnen sich nach Nähe und erfüllen sich diese Sehnsucht
schließlich selbst. Am Ende dieser witzigen und klugen
Selbstermächtigungs-Feier schlittern sie über die nasse Bühne ins Publikum
und lassen ihre nackten Brüste ein Glockenspiel bimmeln, was – seltsam
genug – weder kitschig noch peinlich ist.
Und feministisch? Auch. Doch mehr als Gender oder Queerness interessiert
Böhm „der durch das spielende Handeln sich emanzipierende Mensch“. Dass der
gerne singt, mit Wasser spritzt und durch Zuschauerreihen prescht, gehört
dazu: „Mir ist wichtig, dass man richtig was erlebt“, sagt Böhm. Meist ist
das nichts Schlimmes, denn lieber als Gewalt – „davon wird ohnehin
unentwegt erzählt“ – will sie „gelingende Kommunikation zeigen“. In
gewisser Weise macht Leonie Böhm anarchisches Mutmachtheater für (junge)
Erwachsene, das dazu einlädt, die eigenen Träume beim Schopf zu packen.
Seit Beginn dieser Spielzeit ist die Mutter von zwei Kindern eine der acht
festen Hausregisseur:innen am Schauspielhaus Zürich, mit denen das neue
Leitungs-Duo Stemann/von Blomberg längerfristige Allianzen schmieden will.
Gut ist schon mal, dass Leonie Böhm statt, wie in dieser Spielzeit, vier
Inszenierungen in vier Städten in der nächsten vielleicht nur zwei Arbeiten
machen wird. Und beide an einem Ort. Leonie Böhm wünscht sich auch Zeit,
sich wieder neu auf sich und ihren Beruf zu besinnen. Klar! Wer so
menschenfreundliches Theater macht, muss auch auf sich selbst aufpassen.
9 Dec 2019
## AUTOREN
Sabine Leucht
## TAGS
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