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# taz.de -- Neuer Intendant Residenztheater München: Wenn die Musik spielt
> Der Neustart am Residenztheater in München unter Andreas Beck gelingt
> nicht ohne Stolperer. Trotzdem macht er München vorerst zum
> Theaterparadies.
Bild: „Olympiapark in the Dark“ von Thom Luz ist eine Klangreise durch das …
Was als Erstes auffällt, ist die andere Stimmung. Der Marstall ist hell
ausgekleidet und beherbergt lebendige Pflanzen, ohne dass sein rauer Charme
flöten ginge. Im Cuvilliéstheater spielen die aus Basel importierten „Drei
Musketiere“ mit den Lachtränen der Zuschauer und den Vorhangattrappen des
Rokoko-Interieurs. Und im Foyer entschuldigt sich der neue Intendant
persönlich bei denen, die an der Abendkasse zu lange warten müssen: „Gefahr
erkannt, Gefahr gebannt!“
Die Zeichen beim Start von Andreas Beck am Bayerischen Staatsschauspiel
stehen auf Anpacken und Offenheit. Die ersten Bühnenbilder in der
Hauptspielstätte Residenztheater sind aufgeräumt, zeitgemäß und abstrakt.
Und aus dem Wintergarten im ersten Stock leuchten 3.000 filigrane
Silberblätter auf den Max-Joseph-Platz hinaus.
Mit der Installation „Silver Cloud“ hat der zwei Tage nach
Spielzeiteröffnung verstorbene Lichtmagier Ingo Maurer dem Haus sein
Vermächtnis hinterlassen: ein Lichtkunstwerk in fortwährender Bewegung.
Edel, aber nicht pompös. Das passt zum neuen Stil. Denn während das Resi
unter Martin Kusej öfter mal staatstragend aufstampfte, startet es mit Beck
freundlich und fast leger – wenn auch ganz anders leger als Matthias
Lilienthals Kammerspiele. Während der Intendant des Theaters des Jahres
2019 bei seiner Auftakt-Pressekonferenz 2015 im obligatorischen T-Shirt
Gebäck verteilte, lud Beck im Anzug an eine riesige weiße Tafel. Derart
geschmackvoll und gastlich ist auch sein Theater. Auch intern.
## Ein Ständchen für die Stadt
So führt die langjährige Resi-Schauspielerin Barbara Melzl das Ensemble von
[1][Thom Luz durch den Marstall] und mit freundlichen Warnungen vor dessen
Tücken mitten hinein ins Stück. Der Nebelmaschinen-Magier aus der Schweiz
ist neben Nora Schlocker und Julia Hölscher Hausregisseur bei Beck und hat
der neuen Stadt ein Ständchen gebracht. „Olympiapark in the Dark“ ist eine
Klangreise durch die Münchner Geschichte, analog zu Charles Ives’
vielschichtiger Komposition „Central Park in the Dark“ von 1906. In Ives’
Original wie bei Luz dauert das fertige Produkt keine 8 Minuten. Die 90
Minuten davor wohnt man der Verfertigung seiner Zutaten bei und schaut
schauspielenden Musikern und musizierenden Schauspielern dabei zu, wie sie
Fake-Dialoge zwischen Karl Valentin und Oscar Maria Graf produzieren,
wunderbar a cappella singen oder auf den Olympiaberg steigen.
Sie basteln sich einen riesigen Kunstmaterialüberschuss zusammen und
produzieren neben zauberhaften Momenten einigen Leerlauf. Aber am Ende des
Abends hat sich die eigene Wahrnehmung verändert und man nimmt eine
Sehnsucht nach einem Ort mit nach Hause, der von sich selbst erzählt – und
zugleich von unseren Träumen.
Ewald Palmetshofers „Die Verlorenen“ in der Inszenierung von Nora Schlocker
ist unversehens zur Eröffnungspremiere avanciert, weil Simon Stone seine
Stückentwicklung „Wir sind hier aufgewacht“ wegen eines Filmprojekts
verschieben musste. Doch der Abend hält den Erwartungen stand.
Bühnenbildnerin Irina Schicketanz hat einen dicken weißen Rahmen um ein
weißes „Bild“ gelegt, auf dem im goldenen Schnitt ein Holzkreuz hängt.
Durch schwarz hinterlegte Schlitze dazwischen pressen sich elf Schauspieler
auf die Bühne und warten auf eine Bestätigung ihres Da-Seins: „Hallo? Hört
uns jemand? Kann uns jemand / Ist wer / Ist wer da?“
So beginnt der Abend. Eine Frau will für eine Weile raus aus ihren
Verpflichtungen und wird umso grausamer von ihnen eingeholt; ein
Schwestern-Zwist hat das Potenzial zum Erbschaftsstreit, ein seltsames Kind
wird noch seltsamer und eine Tankstelle zum Zufluchtsort. Erzählt wird all
dies mit diesen vagierenden Palmetshofer-Sätzen, die ihre Bestandteile
verschleppen oder gar verlieren, manchmal sprachschöpferisch und
unglaublich witzig sind und manchmal kunsthandwerklich verschroben.
## Wer immer nur verliert
Schlocker und ihre Schauspieler aber rhythmisieren sie so gekonnt, dass sie
einen regelrechten Sog entfalten. Sie lassen auf nackter Bühne Menschen aus
Fleisch und Blut entstehen, die daran leiden, dass kein Gott sie mehr sieht
und es in einer Welt der reinen Immanenz nicht mehr okay ist, unperfekt zu
sein. So sagt der Junge einmal zu seiner Mutter: „Ich seh doch wie du
kämpfst / und immer nur verlierst / und merkst es selber nicht / das ist so
… / jämmerlich / und peinlich, Clara.“
Dass Andreas Beck mit ausgesprochenen Ensemblestücken an den Start geht,
ist durchaus eine Ansage. Die nahezu leeren Bühnen des Spielzeitbeginns
sind Schaufenster, in denen kaum etwas von den durchweg neugierig machenden
Schauspielern ablenkt. Viele in dem Riesenensemble von 58 Personen, unter
denen allerdings auch Gäste sind, hat Beck aus Basel mitgebracht, ein gutes
Dutzend hat eine Münchner Vergangenheit. Und dass sich kaum jemand in den
Vordergrund spielt, lässt auf ein anderes Ensembleverständnis schließen als
unter Kusej, bei dem es praktisch vom Fleck weg Stars gab wie Bibiana
Beglau oder Intendantenlieblinge wie Norman Hacker.
Mit drei Auftragswerken unter den ersten vier Premieren bekennt sich der
Neue außerdem zu dezidierten Text- und Regie-Handschriften – für deren
Dechiffrierung ein bildungsbürgerlicher Hintergrund zumindest hilfreich
ist. [2][So einen Schimmelpfennig] versteht man nicht so leicht. Aber auch
wenn man versteht, wie er in „Der Riss durch die Welt“ Sprachschleifen aus
Kunst- und Gesellschaftsfragen dreht, wird man nicht zwingend glücklich.
Der Plot ist schlicht: Zwei Paare in einem Raum kommen nicht zusammen.
Verbal nicht, weil Roland Schimmelpfennigs Satzbruchstücke selten der
Verständigung dienen und das Stück im Untertitel „170 Fragmente einer
gescheiterten Unterhaltung“ heißt. Und sozial schon gar nicht. Kunstsammler
Tom ist steinreich. Die junge Künstlerin Sophia und ihr Freund Jared wären
es gerne, machen aber auf „Getto“, aus dem sie eine Geschichte von
Blutströmen, Fröschen und biblischen Plagen mitgebracht haben, die
vielleicht ihr Kunstprojekt ist, vielleicht aber auch den Zusammenbruch der
Gesellschaft aufzeigt.
Der Abend hat Verehrer. Auf mich wirkt er wie jemand, der sich aufplustert,
um größer zu wirken. Die soziale Frage wirkt im Rokoko-Schatzkästchen
Cuvilliéstheater deplatziert. Und mir wird nicht klar, ob Schimmelpfennig
die Elendsattitüde der schicken jungen Kunst-Prekarier in ihrer Blase
anprangert oder ob Tilmann Köhlers Inszenierung nicht aus der Kunstblase
herauskommt. Handwerklich und schauspielerisch ist diese Arbeit top. Und
während Jared eins ums andere Gläser gegen die sich drehende Wand wirft,
die Karoly Risz als Symbol für die Kunst oder das Trennende zwischen den
Menschen entworfen hat, ist der Nachhall laut. Aber auch er klingt
ausgesprochen künstlich.
Hierin liegt vielleicht die Gefahr eines hochästhetischen Theater-Theaters.
Selbst wenn es so spielfreudig und inhaltlich relevant ist wie hier. Doch
so lange Matthias Lilienthal auf der anderen Seite sein themenzentriertes,
zur freien Szene hin offenes Kontrastprogramm fährt, kann man München
getrost als neues Theaterparadies bezeichnen, in dem für jeden etwas zu
finden sein sollte. Also noch bis Ende der Spielzeit. Mindestens.
19 Nov 2019
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## AUTOREN
Sabine Leucht
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