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# taz.de -- Nach Virginie Despentes' Romantrilogie: Zerschellte Träume
> Stefan Pucher hat „Das Leben des Vernon Subutex“ für die Münchner
> Kammerspiele inszeniert. Es fehlt alles, was das Epos herausragen lässt.
Bild: Der „Haufen der Verstrahlten“ in Puchers „Das Leben des Vernon Subu…
München taz | Die Hyäne ist cool. Die weiß, wie man Geld macht im Netz.
Verleumdungen: kaputte Sache! Und weil das, was sie tut, der neue heiße
Strippenzieher-Scheiß ist, stretcht sich Wiebke Puls in ein paar
Geheimagenten-Posen und singt mit Jelena Kuljić „Sign O’ the Times“ von
Prince.
Das ist die erste Szene mit Appeal in Stefan Puchers Inszenierung „Das
Leben des Vernon Subutex“ an den Münchner Kammerspielen. Bis dahin hat der
Abend die Figuren durchgehechelt, die er sich aus dem imposanten Arsenal
von [1][Virginie Despentes’ gleichnamiger Romantrilogie] herausgepickt hat.
Ein Schauspieler nach dem anderen springt dazu in eine Arena, deren
Sitzreihen wie aufgeklappte Vinylrillen wirken.
Darunter sind komische Kabinettstückchen, etwa eine Energieexplosion von
Annette Paulmann als Obdachlose, die weiß, wie die Welt zu einem besseren
Ort würde, von Thomas Hauser als geschmeidige Ex-Pornoqueen und von einer
rätselhaft strahlenden Maja Beckmann, deren Körper wuchs, als ihre
Illusionen schrumpften. Dazu ploppen hinter ihnen in roten Blockbuchstaben
Namen auf: Olga, Pamela, Emilie.
Ihre Steckbriefe hat Pucher an den Anfang gestellt, pointiert, aber ohne
Tiefe. Nach der Pause hat er Texte aus allen drei Bänden zu
weltanschaulichen Themenblöcken gebündelt. Was fehlt, ist dagegen fast
alles, was dem Epos den Ruf eingebracht hat, das Porträt der Jetztzeit zu
sein: die Verlorenheit jedes Einzelnen, die kollektive Angst einer von
Anschlägen traumatisierten und zerbrechenden Gesellschaft und die magische
Versprechung der Musik.
## 1.200 Buchseiten in 220 Minuten
Despentes porträtiert das Frankreich der Gegenwart vom Niedergang der
Plattenindustrie bis nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo und das
Bataclan. Ihr Personal sind die heute um die Fünfzigjährigen, deren alte
Träume an den Realitäten zerschellen, die sich mit Sex und/oder Drogen
betäuben oder im Bürgerlichen heimatlos geblieben sind. Im Zentrum dieses
„Haufens von Verstrahlten“: Vernon Subutex, der vom Ex-Plattenverkäufer in
Paris zum Ex-Obdachlosen und zum Ex-Guru wird, ohne für all das viel zu
tun.
Er lässt geschehen, dass eine denkbar diverse Gruppe ihn für den Kitt hält,
der sie zusammenkleben kann. Er legt Platten auf, und in ihren
„convergences“ – quasi Raves ohne Internet und Drogen – sehen selbst ha…
Skeptiker farbige Lichtwellen zwischen den Tänzern wogen. Davon erzählen
ansatzweise Schwarz-Weiß-Videos von Meika Dresenkamp, die winkende Hände
oder Pilger in seltsam ortlosen Landschaften zeigen.
Erlösungs-Besoffenheit!
Auf der Bühne ist Pucher dagegen allzu nüchtern und erspart den Zuschauern
sogar die Irritationen, die die Begegnung mit Alkoholikern, bekennenden
Rassisten oder zum Islam Konvertierten dem Leser zumuten, den Despentes in
deren Lebensruinen hineinzieht, bis das eigene Weltbild wackelt. In den
Kammerspielen stehen Thesen im Raum, von Brüchen weitgehend bereinigt, was
zugegeben leicht passiert, wenn 1.200 Buchseiten in 220 Minuten
Vorstellungsdauer hineinschrumpfen müssen.
Vor allem aber überrascht, dass Pucher, früher selbst DJ und ein wandelndes
Pop-Lexikon, so wenig auf die Magie der Musik einsteigt. Der einst als
junger Wilder angetretene Regisseur gehört etwa derselben Generation an wie
Despentes und ihre Figuren, weigert sich aber, mit ihnen gemeinsam im Sound
der eigenen Jugend zu baden. Statt dessen konzentriert er sich auf eine
Handvoll Songs, die Christopher Uhe für ihn auf die Essenz eingekocht und
schockgefrostet hat.
## Das Versprechen der Musik zu Grabe getragen?
Dass Jelena Kuljić sie singt, die den Subutex spielt, beschert dem Abend
zwar einige Glanzlichter – Leonard Cohens „You Want It Darker“ als cooles
Requiem und ein A-cappella-Stück über die Résistance, dessen feierliches
Pathos halb nach Barrikaden und halb nach Kirche klingt – bringt aber die
Figur in eine Schräglage: Denn singend die Menge dirigieren ist ungleich
aktiver als das, was Vernon hinter seinem Plattenteller praktiziert und was
Kiko „Storytelling durch Leere“ nennt.
Und als würde er obendrein der Strahlkraft Kuljić’ nicht trauen, wird sie
in einer Filmeinspielung zum Messias stilisiert: Mit so leidendem Blick und
malerisch an ihrem Gesicht herabrinnendem Wasser, dass man sich fast sicher
ist, hier gerade ein Dutzend kunsthistorische Anspielung zu verpassen.
Im Film wird auch immer wieder ein Mann auf Händen getragen wie ein
Rockstar beim Bad in der Menge oder bei einer Beerdigung. Und nachdem der
Filmproduzent Dopalet lange über die Serie „The Walking Dead“ gesprochen
hat und schließlich das ganze Ensemble ziemlich untot auf der cleanen Bühne
herumsteht, in deren Mitte ein einsamer Plattenspieler auf einer goldenen
Säule thront, kommt doch noch die Erleuchtung: Vielleicht hat die
Inszenierung gar nicht das Herz ihrer Vorlage verfehlt, sondern nur
konsequent die Musik und mit ihr die Hoffnung auf ein lebendiges
Miteinander jenseits von Kapitalismus und Terror zu Grabe getragen?
3 Apr 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Sabine Leucht
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