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# taz.de -- „Vernon Subutex“ an der Schaubühne: Eine sonore Plaudertasche
> Eine Revue der linksliberalen Pariser Bohéme zeichnet Virginie Despentes’
> „Vernon Subutex“. Nun wird das Stück an der Berliner Schaubühne
> nacherzählt.
Bild: „Das Leben des Vernon Subutex“, mit Stephanie Eidt, Joachim Meyerhoff…
Kurz vor Mitternacht ist Vernon Subutex ganz unten angekommen. Joachim
Meyerhoff kniet in speckiger Lederjacke und mit verfilztem Haar auf einem
Stück Pappe. Unbequem sieht das aus, nach Betteln, das Arbeit macht.
Er hat hohes Fieber und fantasiert, wie auf den letzten Seiten des ersten
Bandes von Virginie Despentes Romantrilogie „Das Leben des Vernon Subutex“:
„Ich bin die Nutte (…), ich bin die Krankenschwester (…), ich bin der
Langzeitarbeitslose (…), ich bin der Baum (…)“, so löst sich das Ego des
auf der Straße gelandeten Ex-Plattenladenbesitzers in der Pariser
Regennacht langsam auf.
Meyerhoff, der in den letzten Jahren auch [1][als Bestsellerautor seiner
Lebensgeschichte von sich reden machte], spricht diesen letzten Monolog
konzentriert, fast monoton in die Stille. Eine Übung in Demut. Auch für das
Publikum, das nun nach langer Lockdown-Pause doch noch Thomas Ostermeiers
ursprünglich für November 2020 geplante Premiere zu sehen bekommt.
Der Schaubühnen-Chef hat in den letzten Jahren eine Schwäche für
zeitgenössische französische Literatur und Gesellschaftskritik entwickelt;
nach [2][Inszenierungen zu Didier Eribon] und Edouard Louis steht nun mit
[3][Virginie Despentes eine starke weibliche Stimme auf dem Spielplan]. Ihr
2017 auf Deutsch erschienener erster „Subutex“-Band drängt sich geradezu
für die Bühne auf, besteht er doch weitgehend aus Monologen verschiedenster
Pariser*innen, bei denen der obdachlos gewordene Protagonist vorläufig
unterkommt.
## Was überflüssig geworden ist
Eine oxidierte Metallwand, vor der die Vintage-Sofas wechseln, eine
schwarze Bar und einen Konzertbühne hat Nina Wetzel auf der Drehbühne zu
einem flexiblen Bühnenbild arrangiert. Über verstreute Bildschirme flackern
Bilder von Pariser Obdachlosen und Gelbwesten, darüber leuchtet eine
Neonpistole: „Revolver“, so hieß Vernons im Zuge der Digitalisierung
überflüssig gewordener Schallplattenladen.
Unten richten sich zwischen Instrumenten und Verstärkerpedalen die Musiker
Thomas Witte, Taylor Savvy und Henri Maximilian Jakobs ein. Und obwohl die
Figuren die provisorisch wirkende Kulisse geschickt bewohnen und
durchschreiten, können sie das Nacheinander der Solo-Monologe nur selten
durchbrechen.
Despentes porträtiert ihr eigenes Milieu, die linksliberale, hedonistische
Pariser Boheme samt angrenzender Halbwelt der heute um die Fünfzigjährigen
in allen möglichen, immer ambivalenten Facetten. Ihre Vertreter sind im
Musik- oder Filmbusiness reich und zynisch geworden oder auf der Strecke
geblieben. Einstige Rebellinnen haben sich in bürgerlichere Berufe gerettet
oder zur Ruhe gesetzt, wie der Pornostar Pamela Kant. Wenn sie Kinder
haben, grenzen sich diese von ihren Eltern ab und sind politisch
radikalisiert.
Thomas Ostermeier, der den Roman zusammen mit Bettina Ehrlich und Florian
Borchmeyer fürs Theater bearbeitet hat, versucht keinen Berlin-Transfer und
keine zuspitzende Lesart; er bleibt einfach nah am Text.
## Amokfantasien und Pornofibeln
Die Schau sind die Schauspieler*innen, die sich mal im Stil einer
Bekenntnisrede vorne ans Standmikro stellen, mal hinter der vierten Wand
aufs Sofa sinken, gelegentlich unterbrochen vom souverän gecoverten
Indie(punk)rock der Live-Band. Julia Schubert beschreibt als
therapiegstählte Ex-Bassistin Emily mit unverhohlener Schadenfreude
alternde Männerkörper, Stephanie Eidts Edel-Junkie Sylvie räkelt sich
selbstgefällig, während sie über ihre Freundinnen lästert.
Holger Bülow spielt den Drehbuchautor Xavier Fardin als überangepassten
Streber, der seine Wut mit Amokfantasien knebelt. Laurent Dopalat,
mächtiger Filmproduzent und Schwerenöter, kommt bei Axel Wandtke trotz
Berufszynismus fast sympathisch rüber. Erst nach der Pause, bei Ruth
Rosenfelds geschmeidigem Pamela-Kant-Auftritt, nimmt die Inszenierung etwas
schrägere Fahrt auf, wenn die Sängerin über eine Pornofibel für Kinder
schwadroniert.
Bastian Reiber treibt seinen Armutszynismus in Gestalt des skrupellosen
Clubkapitalisten Kiko in eine penetrante Stand-up-Comedy-Nummer, und die
beiden Trans-Darsteller*innen Henri Maximilian Jakobs (als Daniel) und Mano
Thiravong (als Marcia) ziehen eine persönliche Note ein. Doch mit Helvin
Tekin als gegen ihre Porno-Mutter aufbegehrende Trotz-Islamistin Aicha und
Thomas Badings Altrocker Patrice, der einfühlsam über seine Neigung zu
häuslicher Gewalt fabuliert, kehrt die inzwischen fast vierstündige
Monologstrecke auch wieder zum psychologischen Realismus zurück.
Bleibt Joachim Meyerhoff, die vielleicht größte Irritation dieses dann doch
sehr braven Nacherzähltheaters: Sein Vernon Subutex taugt überhaupt nicht
als die unauffällig attraktive Projektionsfläche, als die Despentes ihn
beschreibt. Er ist von Anfang an nicht nur körperlich extrem präsent und in
seiner abgewetzten Schmuddeligkeit fast schon auserzählt, er ist auch eine
sonore Plaudertasche, die die im Roman meist in der dritten Person erzählte
Perspektive in die Ich-Form holt.
Und dieses Ich klingt in seiner belustigten Selbstironie sehr nach
Meyerhoff, wenn auch in gechillter Version. Mit etwas gutem Willen könnte
man ihn als Vorwegnahme von Subutex’ späterer Entwicklung zum DJ-Schamanen
nehmen. Denn in Band zwei entpuppt sich Vernons sozialer Abstieg als
Befreiungsutopie: Wer nichts mehr zu verlieren hat, lebt erst wirklich
ungeniert. Was in Band drei durch die Anschläge auf die Pariser
Konzerthalle Bataclan wieder kassiert wird. Doch so weit kommt es an der
Berliner Schaubühne nicht. Hier entlässt einen der kniende Subutex nur mit
der Frage in die Nacht, ob er nun ein Bild des Trosts oder der Verzweiflung
ist.
7 Jun 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Eva Behrendt
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