Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Mord in Lüttich auf Berliner Bühne: Die Klassenlage ist kein Mord…
> Was treibt Menschen, blindlings zu hassen? Die Berliner Schaubühne zeigt
> Milo Raus „Die Wiederholung“ über den Mord an einem schwulen Mann.
Bild: Die Aggression richtete sich gegen einen Homosexuellen, mit erkennbarer n…
Im Prolog fällt es bald, das Wort „Chemnitz“. Eine der belgischen
Schauspielerinnen lässt es fallen, als Chiffre, Symbol in einer
spektakulären Inszenierung Milo Raus, mit der die Berliner Schaubühne in
die Spielzeit 2018/19 gestartet ist. Rau, frisch gekürter Intendant des
Nationaltheaters in Gent, ist mit „Die Wiederholung“ zur
Deutschlandpremiere nach Berlin gekommen.
Rau, der vielfach ausgezeichnete Schweizer Regisseur, ist bekannt dafür,
mit seinem Theater an die Schmerzgrenzen zu gehen, brisante
gesellschaftliche Fragestellungen um Gewalt und Verbrechen auf der Bühne
zuzuspitzen. So auch in „Die Wiederholung“. Angesichts von Jagdszenen wie
aus Chemnitz fragen sich derzeit viele, was Menschen antreibt, blindlings
zu hassen.
„Die Wiederholung“ ist ein Kriminalstück und bietet eine Folie der
Interpretation, wenn auch vor einem anderen Hintergrund. Sie rekonstruiert
einen Mord, begangen in Lüttich 2012. In einer Aprilnacht steigt der
32-jährige Ihsane Jarfi in einen VW-Polo zu ihm unbekannten, betrunkenen
Männern vor einer Schwulenbar in Lüttich. Ihsane Jarfi war homosexuell.
Tage später wird sein grausam entstellter Leichnam in einem Waldstück
gefunden.
Der Mord wurde in Belgien als Hate Crime bewertet, als eine rassistisch und
sexistisch motivierte Straftat. Doch war sie das wirklich? Warum ermordeten
die drei Männer in Lüttich Ihsane Jarfi? Taten sie es spontan oder
zielgerichtet, was war vorgefallen? Wie zufällig gehen Menschen wie in
Chemnitz auf andere los, die sie als anders wahrnehmen, aber nicht einmal
kennen? In Chemnitz, in dem ein Nazinetzwerk den Mördern des NSU jahrelang
Deckung gab. Im belgischen Lüttich, dieser heruntergerockten Arbeiter- und
früheren Industriemetropole. Solche Kausalzusammenhänge sind schnell
hergestellt, aber auch zumeist von begrenzter Aussagekraft.
## Ernsthaftigkeit und Selbstironie
Je tiefer Milo Rau, Schauspieler und Team in die Ermittlungen zum Mordfall
Jarfi eintauchen, um so unsicherer scheinen sie geworden zu sein. Die
Schauspieler*innen legen dabei die Karten auf den Tisch. Sie stellen sich
und ihre eigenen Zugänge zu der Inszenierung vor, die grandiosen Profis
unter den Darsteller*innen (Sébastien Foucault, Sara de Bosschere, Johan
Leysen) genauso wie die nicht minder überzeugenden Laien (Tom Adjibi, Suzy
Cocco, Fabian Leenders).
Die Darstellung glänzt durch eine gute Mischung von Ernsthaftigkeit und
Selbstironie. Ausgangspunkt von „Die Wiederholung“ war, dass Schauspieler
Sébastien Foucault („ich war damals glücklicherweise arbeitslos“) den
Prozess gegen die Mörder von Ihsane Jarfi beobachtete.
## Fabrikation der Fiktionen
Profi-Schauspieler wie auch Laiendarsteller erzählen immer wieder von sich
und dem Niedergang einer Region. Sie verlassen ihre „authentischen“ Rollen
und schlüpfen in die fiktiven des Opfers, der Angehörigen und der Täter. Es
ist ein geschicktes Spiel mit Wirklichkeiten und legt die Fabrikation der
Fiktionen auf der Theaterbühne offen.
Zu Beginn jedes Aktes lässt Rau auf die rückwärtige Leinwand
Dokumentarfotografien projizieren, Standbilder verfallener
Industrielandschaften in und um Lüttich herum. Sie sind der melancholische
Kommentar eines Ist-Zustands, ohne dass in der Inszenierung grammatikalisch
nachgedoppelt würde. Nein, die Klassenlage an sich ist kein Mordmotiv.
## Wohltuend vielschichtig und komplex
Ebenso präzise, komplex und sensibel kommen andere Medien zum Einsatz,
Videobilder (im Stile des Cinema Noir); Sound und Schauspielkunst werden
ohne überflüssiges Beiwerk verdichtet, die Bühne bildet die Bühne ab,
verschränkt und treibt die Erzählung voran. Dieses Kriminal- und
„Volkstheater“ ist vom Interesse geleitet, die eher alltägliche Psyche zu
erforschen: das Extreme als Teil der Normalität.
Regisseur Rau zoomt so nah wie möglich an das Verbrechen, die Taten haben
Individuen zu verantworten. Er „holt“ das Verbrechen im Sinne des
Philosophen Kierkegaards „wieder“ zurück auf die Bühne und will so an
dessen Aufhebung arbeiten. Bei diesem Theater scheint ähnlich wie bei dem
Marthalers vieles einfach und ist doch gleichzeitig alles auch so wohltuend
vielschichtig und komplex.
## Suff, schlechte Laune, Zufall?
Doch der Rationalität, dem Willen zur Aufklärung scheinen auch in „Die
Wiederholung“ klare Grenzen gesetzt. Deutlich in der Szene, als der mit
„proletarischen Witz“ gesegnete Laiendarsteller Fabian Leenders, Maurer,
DJ, Gabelstaplerfahrer (sowie Statist in Filmen der Gebrüder Dardenne), von
sich erzählt und sich gleichzeitig fragt, warum jemand, den er im Gefängnis
besuchte und der ebenfalls Maurer, Gabelstaplerfahrer wie er aus Lüttich
ist und gerne einen über den Durst trinkt, einen anderen einfach so
umbringt.
Alles Suff, schlechte Laune, Zufall? Rau und seine Schauspieler scheinen
vor der Sinnlosigkeit, der stumpfen, sich an sich selbst berauschenden
Gewalt mehr und mehr zu kapitulieren. Es scheint zu nichtig, als ihr Sinn
zuzusprechen. Und so fällt auf der Bühne häufiger der Begriff von der
„Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt).
## Dem rechten Schlägermob anschlossen
War der Mord an Ihsane Jarfi also doch kein Hate Crime, weil die
Rauschhaftigkeit der Täter kaum rational fassbar ist? Darüber lohnt sich zu
diskutieren und weniger darüber, ob die Darstellung des Mords auf der Bühne
zu drastisch ausgefallen wäre (sie ist es nicht – auch wenn sie an die
Grenzen geht, bleibt sie künstlerisch deutlich gebrochen).
Die Mörder von Lüttich mögen keinen Plan gehabt haben, als sie von ihrer
vermurksten Feier in einer regnerischen Nacht in die Innenstadt aufbrachen.
Aber ihre Aggression richtete sich wie spontan auch immer weniger zufällig
als zielgerichtet zunächst gegen eine Frau und dann gegen einen
Homosexuellen, mit erkennbarer nicht weißer Herkunft. Ihre
Vorurteilsstruktur dürfte sich kaum von jener unterscheiden, die dazu
führt, dass sich an Orten wie Chemnitz, spontan viele „Normalos“ dem
rechten Schlägermob anschlossen und auf die Jagd von „Andersartigen“
gingen. Der Banalität des Bösen liegt die Bereitschaft zum Hate Crime zu
Grunde.
5 Sep 2018
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
## TAGS
Hannah Arendt
Politisches Theater
Hassverbrechen
Theater
Theater Berlin
Theater
Milo Rau
Thilo Sarrazin
Kongo
Milo Rau
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Vernon Subutex“ an der Schaubühne: Eine sonore Plaudertasche
Eine Revue der linksliberalen Pariser Bohéme zeichnet Virginie Despentes’
„Vernon Subutex“. Nun wird das Stück an der Berliner Schaubühne
nacherzählt.
Premiere an der Berliner Schaubühne: Die Furcht auf dem Lande
Fremden zu helfen, ist gefährlich: Die belgische Regisseurin Anne-Cécile
Vandalem inszeniert in „Die Anderen“ in Berlin ein düsteres Zukunfstbild.
Milo Rau an Bochums Schauspielhaus: Keine Vergebung
Distanziert und nah zugleich: Milo Raus „Orest in Mossul“ erzählt berühre…
von Krieg und Gewalt.
Milo Rau am Nationaltheater in Gent: „Klassiker verboten!“
Regisseur Rau schlug eine Intendanz am Züricher Schauspielhaus aus und geht
nach Belgien. Ein Gespräch über Homophobie und die Banalität des Bösen.
Kolumne Leuchten der Menschheit: Er ist wieder da
Neues von Thilo Sarrazin: Der Erniedrigte schreibt unaufhörlich weiter.
Diese Woche kommt sein neues Buch heraus. Es geht kaum schlimmer.
Doku über das „Kongo-Tribunal“: Die Macht des Rechts
Milo Raus Projekt mag selbstherrlich wirken. Aber seine Darstellung, wie
Wohlstand in Europa auf der Ausbeutung Afrikas aufbaut, wühlt auf.
Milo Raus Polit-Theater vor dem Reichstag: Revolution, re-inszeniert
Der Versuch des Schweizer Theaterregisseurs Milo Rau, ein demokratisches
Weltparlament zu inszenieren, war nicht ganz erfolgreich.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.