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# taz.de -- Milo Rau an Bochums Schauspielhaus: Keine Vergebung
> Distanziert und nah zugleich: Milo Raus „Orest in Mossul“ erzählt
> berührend von Krieg und Gewalt.
Bild: „Orest in Mossul“ ist ein fordernder Abend, nachdenklich und brutal
Wenn sich die Türen öffnen in den Bochumer Kammerspielen, ist das
siebenköpfige Ensemble bereits auf der kaum möblierten Szene. Ein
verglaster Kasten deutet hinten ein Café an, auf der linken Seite der Bühne
steht ein E-Piano, auf dem Marijke Pinoy stoisch den Song „Mad world“
klimpert. Wieder und wieder erklingt der Song der britischen Popgruppe mit
dem schönen Namen „Tears for Fears“. Wenn im Laufe des 90-minütigen
Theaterexerzitiums keiner am E-Piano sitzt, kommt der schlichte, in müder
Melancholie badende Song vom Band. Eine Endlosschleife der
desillusionierten Klage, maßlos traurig und zugleich distanziert.
Dieser Tonfall überstrahlt in gewisser Weise den ganzen Abend, denn das
Theater von Milo Rau will nicht Theater sein, das Illusionen produziert, in
Schönheit badet, abhebt, erschüttert und begeistert. Rau ist als Regisseur
ein radikaler Verweigerer des theatralen Theaters. Seit 2018 ist er auch
künstlerischer Leiter des NT Gent. Was Theater heute sein sollte, hat Rau
im „Genter Manifest“ festgeschrieben, das zehn strenge Regeln festlegt.
Da ist von Recherchen und Debatten die Rede, die wörtliche Adaption von
Klassikern ist verboten, eine festgelegte Probenzeit muss ausserhalb des
Theater stattfinden, mindestens zweisprachig soll es sein, mindestens zwei
Laien gehören dazu, das Bühnenbild soll handlich, sprich karg sein und
mindestens einmal pro Saison muss in einem Krisen- oder Kriegsgebiet
geprobt oder aufgeführt werden. Und über all' dem thront als erstes, fast
schon heroisch tönendes Gebot „Es geht nicht mehr nur darum, die Welt
darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern.“
## Einschüchtern erst, packend bald
Anstrengend, ausgenüchtert und spassfrei liest sich dieses Genter Manifest.
Auch der Titel des mit Bochum koproduzierten Abends „Orest in Mossul“ wirkt
offenbar derart einschüchternd, dass viele Sitze frei bleiben. Tatsächlich
ist „Orest in Mossul“ ein fordernder Abend, nachdenklich und brutal. Man
schaut zunächst zu, als sähe man eine Dokumentation und wahrt Distanz. Doch
dann ereignet sich doch große Theaterkunst, das, was erst unfertig und
improvisiert wirkt, entwickelt bald eine sogartige Kraft, die unmittelbar
bannt.
Milo Rau ist mit seinen Schauspielern ins nordirakische Mossul gereist und
hat die epochale Tragödie „Die Orestie“ von Aischylos gemeinsam mit
irakischen Darstellern – Schauspieler, Musiker, Studierende – in den
Trümmern der zerstörten Stadt geprobt und gefilmt. (Darüber schrieb er in
der taz vom 13. April.) Da diese aber nicht in den Westen ausreisen können,
ist in Bochum nun meistens ein doppeltes Spiel zu sehen, der Film aus dem
Irak wird auf der Bühne gedoppelt oder kommentiert.
## Das Tabu des Kusses
Das Geschehen bewegt sich grob am Handlungsskelett der antiken Tragödie
entlang, aber verlegt ins Hier und Jetzt der durch den IS verheerten Stadt.
Zugleich dokumentiert das Video das, was die Beteiligten in Mossul
erlebten, als sie versuchten, die Szenen und Figuren der Orestie auf die
Bühne zu bringen.
Geprobt und gedreht wurde vor allem vor der zerstörten Kunsthochschule,
einige Szenen spielen auf dem Dach eines ehemaligen Kaufhauses, von dem der
IS Homosexuelle herabgestoßen haben soll. Milo Rau deutet Orest und Pylades
als schwules Paar, das sich laut Regieanweisung küssen soll, was im Irak
als absolutes Tabu gilt. Das Befremden darüber und die Diskussionen werden
mitdokumentiert. Das Video zeigt auch Interviews mit den Beteiligten, ein
Fotograf berichtet davon, wie er heimlich unter Todesgefahr Hinrichtungen
fotografierte und ein Musiker erzählt, dass während des Kalifats das
Musizieren verboten war.
Die Grausamkeiten der antiken Tragödie werden explizit und drastisch
vorgeführt. Auf Video sind zwei (gespielte) Strangulierungsszenen zu sehen,
erst erwürgt Agamemnon (der belgische Schauspieler Johan Leysen) quälend
langsam die verschleierte irakische Darstellerin der Iphigenie, später muss
Elsie de Brauw als heutige Klytaimnestra im Video und zugleich live ein
ähnlich schreckliches Ende nehmen. Das ist von beklemmender Wucht – und
dann einfach „nur“ Theater mit grandiosen Schauspielern.
Am Ende tritt die gläubige Khitan Idress in Erscheinung, die ihren Ehemann
durch den IS verloren hat, und umringt von jungen Männern aus Mossul in die
Runde fragt, was mit den IS-Kämpfern geschehen solle, Tod oder Begnadigung?
Anfangs waren sich die jungen Männer noch sicher, dass die IS-Kämpfer den
Tod verdient hätten. Doch am Ende hebt keiner mehr die Hand. Aber es hebt
auch keiner die Hand für Vergebung. Ein Moment von bestürzender
Ratlosigkeit. Der aber die fatale Logik der ewigen Fortschreibung von
Gewalt auf den Punkt bringt.
24 May 2019
## AUTOREN
Regine Müller
## TAGS
Theater
Milo Rau
Irak
Irakkrieg
Antike Dramen
Kolumne Jesus versus Salvini
Kolumne Jesus versus Salvini
Schwerpunkt Rassismus
taz.gazete
Mossul
Milo Rau
Hannah Arendt
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