Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Jesus versus Salvini: Die Sklaven der Agrarindustrie
> Aktuell verfilmt unser Autor in Süditalien das Neue Testament. Die
> Hauptrollen spielen Migrant*innen. Noch nie musste er ein Projekt so
> wenig erklären.
Bild: Yvan Sagnet, ehemaliger Plantagenarbeiter und Aktivist, spielt in Raus Fi…
Aktuell verfilme ich in Süditalien das Neue Testament. Jesus, der übers
Wasser geht, das letzte Abendmahl, schließlich die Passion Christi: All das
findet diesen Sommer noch einmal statt, in den Flüchtlingslagern und vor
filmhistorischer Kulisse in Matera. Die Kreuzigung ist auf den 6. Oktober
in Matera geplant, die Auferstehung auf den 10. Oktober im Nationaltheater
in Rom – in Anwesenheit von Politikerinnen der auseinanderfallenden
italienischen Regierungskoalition und hoher Würdenträger des Vatikans.
Die Sache begann durch einen Zufall. Meine Stücke touren oft in Italien,
und [1][als Matera zur europäischen Kulturhauptstadt 2019 ernannt wurde],
bekam ich eine Mail: Ob ich inszenieren wolle in der Stadt, in der Pasolini
und Mel Gibson ihre Jesusfilme drehten? Ich entschied mich, die Passion
Christi zu verfilmen und begann mit dem Casting. Pasolinis Jesus, Enrique
Irazoqui, spielt in unserem „Neuen Evangelium“ Johannes den Täufer; Maia
Morgenstern, die Heilige Maria von Mel Gibson, wird noch einmal die Mutter
des christlichen Propheten darstellen.
Die römischen Soldaten werden von Polizisten verkörpert, die sonst
Flüchtlingslager schließen. Und Pontius Pilatus gibt ein gemäßigter
Materaner Politiker, der wie der historische Pilatus die Politik Roms
unwillig – aber im Endeffekt natürlich widerstandslos – exekutiert.
Doch die Hauptrollen dieses „Neuen Evangeliums“ werden von Migrant*innen,
Kleinbauern und Aktivist*innen gespielt. Denn der Reisende, der sich dem
Stiefelabsatz nähert, landet mitten in dem, was Karl Marx einst die
„ursprüngliche Akkumulation“ genannt hat. Ein auf eine halbe Million
Menschen geschätztes Heer von afrikanischen Sklavenarbeitern vegetiert in
den über die Landschaft verteilten Lagern und Gettos dahin, nur um auf
Tomaten- oder Orangenplantagen für eine Handvoll Euro pro Tag ausgebeutet
zu werden.
## Umgekehrte Globalisierung
Sklaven sind diese Menschen, weil sie keine Papiere haben, weil sie in
Schulden stecken, weil sie aufgrund des Dublin-Abkommens weder vor noch
zurück können. Eine Art umgedrehte Globalisierung hat Süditalien zum
Laboratorium des ultraliberalen Kapitalismus gemacht: Während im
ausgehenden 20. Jahrhundert die Produktionsbetriebe zur billigen Arbeit
gebracht wurden, wird im beginnenden 21. Jahrhundert die Arbeitskraft nach
Europa geschleust. Das System ist ausweglos: Bezahlen die Kleinbauern die
Erntearbeiter nicht miserabel, können sie nicht zu den Preisen produzieren,
die die Discounter Lidl und Penny ihnen pro Kilo zahlen.
Fast die komplette italienische Agrarindustrie wird so von mafiösen
Zwischenhändlern kontrolliert, an reguläre Verträge ist nicht zu denken.
Dass Salvini dieser Tage die italienische Regierung implodieren lässt, ist
gewissermaßen konsequent. Der Staat hat sich aus dem Süden Italiens ohnehin
seit Jahrzehnten zurückgezogen, Gesetze existieren nur auf dem Papier. Wie
zur Zeit des römischen Kaisertums sehnen sich die Menschen nach
charismatischer Herrschaft. Oder eben nach Gerechtigkeit.
Was wäre einleuchtender, als hier den sozialrevolutionären Mythos der
Jesusbewegung ins 21. Jahrhundert zu holen? Gottes Sohn ist in unserem
„Neuen Evangelium“der Kameruner Yvan Sagnet, ein ehemaliger
Plantagenarbeiter und Aktivist. Als seine Apostel*innen treten
Bewohner*innen der Flüchtlingslager in Erscheinung, von den großen
Konzernen in den Ruin getriebene Bauernaktivisten, Sexarbeiterinnen.
Nächste Woche startet parallel zum Jesus-Dreh mit einem Marsch aus den
Lagern die Kampagne „Rivolta della Dignità“ („Revolte der Würde“), die
faire Arbeits- und Lebensbedingungen für Flüchtlinge, globale Reisefreiheit
und ein Bürgerrecht für alle fordert.
Jesus versus Salvini, Gerechtigkeit versus Ausbeutung – noch nie habe ich
vor Ort ein Projekt so wenig erklären müssen. Und vielleicht nicht ganz
unpassenderweise wird kurz vor unserem Jesus-Film in Matera ein Film
abgedreht, der sich ganz klassisch mit der Rettung der Welt vor dem Bösen
befasst: die neue James-Bond-Folge.
19 Aug 2019
## LINKS
[1] /Europaeische-Kulturhauptstadt-2019/!5581915
## AUTOREN
Milo Rau
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Kolumne Jesus versus Salvini
Theater
Italien
Milo Rau
Milo Rau
Filmrezension
Italien
Theater
Mossul
## ARTIKEL ZUM THEMA
Inszenierung mit Flüchtlingen: Die Waffe der Entrechteten
Regisseur Milo Rau fordert in seinem Gastbeitrag eine „Revolte der Würde“.
Für die Inszenierung in Italien bringt er Aktivismus und Kunst zusammen.
Spielfilm „Blinded by the Light“: Selbstermächtigung durch Popmusik
Gurinder Chadhas „Blinded by the Light“ ist die Geschichte eines
pakistanischen Jugendlichen in London. Und dessen Liebe zu Bruce
Springsteen.
Matteo Salvinis Erfolg in Italien: Postfaschistische Flirts
Italiens Innenminister Salvini ist nur deshalb so erfolgreich, weil seine
rassistische Politik auf sehr fruchtbaren Boden fällt. Berlusconi sei Dank.
Milo Rau an Bochums Schauspielhaus: Keine Vergebung
Distanziert und nah zugleich: Milo Raus „Orest in Mossul“ erzählt berühre…
von Krieg und Gewalt.
Gastbeitrag Theatermachen im Irak: Der endlose Zyklus der Gewalt
Vor fünf Jahren rief der „Islamische Staat“ in Mossul das Kalifat aus, nun
wird an diesem Ort ein antikes Stück aufgeführt. Es ist nur ein Anfang. Ein
Essay.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.