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# taz.de -- Theatertreffen in Berlin: Leichtfüßige Verzweiflung für alle
> Und die Zuschauer rauchen auf der Bühne: Ein Blick auf Christopher
> Rüpings zehnstündige Inszenierung von „Dionysos Stadt“ in Berlin.
Bild: Rüpings „Dionysos Stadt“ setzt nicht auf Überwältigung
Gäbe es nicht das [1][Theatertreffen in Berlin], ich hätte noch keine
Inszenierung von Christopher Rüping gesehen. Ich könnte nicht schwärmen von
„Dionysos Stadt“, seiner dritten Einladung zum Theatertreffen. Die
Kammerspiele München haben mit diesem zehnstündigen Projekt ihre Spielzeit
eröffnet.
Zehn Stunden „Orestie“, von Peter Stein 1980 an der Schaubühne inszeniert,
gehört zu meinen ältesten Theatererinnerungen. Der Funke zündete, wie in
den antiken Dramen Konflikte verhandelt werden, die den Kern der Demokratie
berühren. Steins Starensemble auf der Bühne erlebt zu haben, war
überwältigend.
Rüpings [2][„Dionysos Stadt“] setzt nicht auf Überwältigung. Wie ein
Kumpel, vieles etwas tiefer hängend als erwartet, kommt die Inszenierung
auf einen zu. Freundlich erklärt Nils Kahnwald im Prolog die Vereinbarungen
mit den Zuschauern, sie dürfen auf die Bühne zum Rauchen, beim Stagediving
der „ersten Menschen“ bitte aufstehen, und es funktioniert. Mitspielbereit
gibt man sich der langen Aufführung hin, auch wenn das Mitspielen
letztendlich nur im Bleiben, Zuhören, Zuschauen besteht.
Oh, und oft vergeht dabei einfach Zeit. Schafe kommen, mähen, grasen,
rammeln, Zuschauer rauchen, am Ende schauen Ensemble und Publikum
minutenlang dem Aufstieg einer Sonnenscheibe zu. Als säße man nun im
antiken Halbrund mit dem Blick gegen Morgen.
## Eimerweise Blut
Oftmals hat das Theater bis dahin seine Gestalt gewechselt, aber immer ist
die Erzählung zugänglich. Der erste Teil, über Prometheus, besteht aus
Monologen. Vom leidenden Prometheus, an den Felsen gefesselt, tausende von
Jahren sein Schicksal voraussehend. Alles nur, weil er den Menschen das
Feuer brachte. Von Zeus, der fragt, war das eine gute Idee? Was haben sie
denn daraus gemacht, die Menschen? Den Krieg! Der entrollt sich im zweiten
Teil über den Trojanischen Krieg, als langes homerisches Vers-Epos, von
Matze Pröllochs am Schlagzeug unterstützt, das über 90 Minuten lang auf den
Zweikampf von Hector und Achill zusteuert.
Da wundert man sich, wie das alte Versmaß als Rockballade wieder hörbar
wird, fast könnte man sich mit geschlossenen Augen durch Homers „Ilias“
treiben lassen. Um nach diesem Literaturerlebnis in den Fernsehsessel
geschleudert zu werden, wo der dritte Teil, „Orestie. Verfall einer
Familie“, als Sitcom gegeben wird, mit Sprechen direkt in die Kamera,
Gesichter leinwandgroß, viel Publikum als Hochzeitsgäste auf der Bühne.
So folgt der Tragödie die Komödie; dabei ist eigentlich auch die tragisch,
das Morden geht weiter, die Kette der Rache für die ermordete Tochter, den
abgestochenen Vater, sie zeugt sich fort und fort, kalauernd diesmal,
eimerweise wird das Theaterblut über die gegossen, die sich als Mordopfer
bereitwillig in die Wanne gelegt haben. Bringen wir es hinter uns, nächste
Generation, dasselbe Spiel.
## „Zidanes Melancholie“
In diesen Dramen haben das zwar die Götter verhängt, doch legt die
Inszenierung nahe, dass die Menschen das auch ohne Götter hinbekämen, so
störrisch sperren sie sich gegen Versöhnung. Weshalb man dem Gott Apollon,
der vom Bühnenhimmel herabschwebend am Ende von Teil drei den Anbruch einer
neuen Zeit ohne Rache verkündet, am wenigsten glaubt.
Man könnte der Inszenierung vorwerfen, Antike light zu spielen,
gewissermaßen Comic für Bildungsbürgerenkel. Was dabei aber auch vorgeführt
wird, ist die Ahnung, dass aller Aufklärung, allem Wissen, aller Erkenntnis
zum Trotz, der Mensch nirgendwo so gut darin ist, wie an seiner eigenen
Vernichtung zu arbeiten.
Etwas Ähnliches treibt ja auch die Aktiven der allwöchentlichen „Fridays
for Future“-Demonstrationen an. An deren existenzielle Verzweiflung dockt
Rüpings leichtfüßig an. Das Attribut „leichtfüßig“ passt auch, weil ma…
vierten Teil den SchauspielerInnen beim Kicken auf der Bühne zusieht. Erst
als Satyrn auf hohem Kothurn, später in Turnschuhen. Im Freizeitmodus, man
entspannt noch ein bisschen. Es gibt noch einen Text, „Zidanes
Melancholie“, von Jean-Philippe Toussaint. Man kokettiert also doch noch
mit der Philosophie dort, wo sie sich mit der Liebe der Massen beschäftigt
und damit mit dem Ort, an dem das Theater gerne wäre, sich aber fern von
weiß. So viel Selbstreflexion muss sein.
17 May 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
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