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# taz.de -- Premiere an der Berliner Schaubühne: Die Furcht auf dem Lande
> Fremden zu helfen, ist gefährlich: Die belgische Regisseurin Anne-Cécile
> Vandalem inszeniert in „Die Anderen“ in Berlin ein düsteres Zukunfstbild.
Bild: Auf der Fahrt in das unheimliche Dorf: Veronika Bachfischer, Ruth Rosenfe…
Realismus kann packend sein, sogar im Theater. Den Beweis tritt
ausgerechnet die eher fürs biedere Gesellschaftsabmalen bekannte Schaubühne
in Berlin an. Die Koproduktion mit Anne-Cécile Vandalem, einer freien
Regisseurin aus Brüssel, beschert dem Berliner Theater den Einblick in eine
auf vielen Ebenen zerstörte Dorfgesellschaft mitten in Europa.
Die Klimakatastrophe hat schon zugeschlagen, seit acht Monaten prasselt
apokalyptischer Regen auf die Dächer hernieder. Die Stimmung ist düster,
kaum jemand traut sich auf die Straße. Infrastrukturell ist das Dorf
abgehängt. Busse fahren kaum noch, die Müllabfuhr holt die Säcke nur noch
jenseits des Ortsschilds ab. Das Handynetz funktioniert nicht, weil
Funkmasten für nur so wenige Einwohner nicht als rentabel gelten. Nicht
einmal das Festnetz ist stabil.
Wer sich jetzt seine Bilder von abgehängten Dörfern in
Mecklenburg-Vorpommern, in Nordfrankreich, in Süditalien oder Nordengland
ausmalt, liegt sicher nicht falsch. Immer mal wieder huschen düstere mit
Kapuzen bewehrte Gestalten durch den Regen. Sie können Bürgerwehr sein, der
lokale Ku-Klux-Klan, aber auch ganz unschuldige vereinsamte Geschöpfe.
## Atmospähre der Verlassenheit
Manchmal sind es auch Untote, die keine Ruhe in ihren Gräbern finden.
Vandalem kreiert eine dichte Atmosphäre der Verlassenheit, unter deren
Oberfläche der Horror schon brodelt. Man merkt es anfangs an Kleinigkeiten,
am Messer, mit dem kleine Gänse für Schlüsselanhänger geschnitzt werden,
am ausgestopften Marder, auf dem wie zufällig der Blick der Kamera
verweilt. Auch am Gewehr in der Glasvitrine im Amtszimmer des
Bürgermeisters sowie an dem immer mal wieder in den Fokus geratenen
Jagdschein wird die latente Bedrohung deutlich.
„Die Anderen“ ist in diesen Momenten ein präziser Dokumentarfilm, der mit
Ausstattungsdetails und kalkulierter Kameraführung den Zusammenhang
zwischen Verlassenheit und Verrohung spürbar macht. Das Schauspielensemble
greift diese Atmosphäre auf.
Der nölende Grundton von Jule Böwe wird bei Hotelbesitzerin Alda zum
Merkmal tief eingekerbter Frustration. Stephanie Eidt trifft die
Jekyll/Hyde-Psyche der Lehrerswitwe Marge mit dem Gegensatzpaar aus
hysterischen Ausbrüchen und fragiler Nettigkeit perfekt. Felix Römer legt
einen aasigen Dorfschulzen hin, der nach außen noch die Illusion vom
Funktionieren der Institutionen aufrechterhalten kann, innerlich aber
verrottet ist. Ruth Rosenfeld schließlich ist Fabelgestalt, halb Mensch,
halb Tier: eine Frau, eingehüllt in Tierfelle, die Geräusche von sich gibt
und sphärische Lieder und die erst recht Erschrecken verbreitet, wenn sie
nur spricht.
## Hilfe für Geflüchtete unter Strafe gestellt
Diese Gesellschaft ist einerseits eine Opfergemeinde. Durch einen Amoklauf
in der Schule verlor sie ihre Kinder. Sie übte Rache, wie sich
herausstellte, aber Rache an Unschuldigen. Über die Verstrickung in
Opfertraumata und abgewehrten Schuldgefühlen legt Vandalem, zugleich
Autorin des Textes, noch politisch motivierte Grausamkeit.
Das, was sie zeichnet, ist ein nicht näher benanntes europäisches Land im
allerdings explizit erwähnten Jahr 2023. Dort wurde ein Gesetz erlassen,
das die Hilfe für Geflüchtete unter Strafe stellt. Parolen von rechts
außen, Sprüche nationalistischer Geiferer sind in dieser Bühnenfiktion also
in Gesetze gegossen. Historische Vergleiche ploppen auf. Ist 2019 die
Wiederkehr von 1929?
Die Traumata dieser dörflichen Opfer-Täter-Gesellschaft sind politisch
umrahmt. Und der Rahmen hat Einfluss. Wie Eisenspäne in einem Magnetfeld
richten sich die Reste menschlichen Empfindens aus. Wer Fremden noch helfen
will in einem Anflug von Nächstenliebe, muss die Ordnungsmacht fürchten.
Wer sich seinem Hass auf alles Fremde hingibt, findet Geborgenheit im
grausamen Gesetz. Denn natürlich kommen die Fremden: ein Mensch ohne Pass
erst, dann eine Sozialarbeiterin, die dessen Verschwinden aufklären will.
Wie diese beiden ausgelöscht werden, zeigt die Inszenierung mit einem
Wechsel ins Horrorfach. Die neuen Morde sollen den alten Mord tilgen,
kerben die Blutrünstigkeit aber nur noch tiefer ins Fleisch. In einem
großen Bühnenwurf verschränkt Vandalem die Abgehängtseinsgefühle
autochthoner Bevölkerungsgruppen in Europa mit White-Trash-Charakteristika
aus den USA und dem Genrekino zwischen „Kettensägenmassaker“ und „Schwei…
der Lämmer“. Illusionistisches Theater, das eindrucksvoll desillusioniert.
4 Dec 2019
## AUTOREN
Tom Mustroph
## TAGS
Theater Berlin
Fremdenfeindlichkeit
Dorf
Europa
Dystopie
Horror
zeitgenössische Kunst
Regisseurin
taz.gazete
Theater
Hannah Arendt
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