# taz.de -- Serbische Regisseurin über Theater: „Dinge wieder ans Licht brin… | |
> Mit ihrem Stück „Danke Deutschland“ beginnt das Festival Internationaler | |
> Neuer Dramatik in Berlin. Ein Gespräch mit Regisseurin Sanja Mitrović. | |
Bild: Denis Kuhnert im Stück „Danke Deutschland“ von Sanja Mitrović | |
taz: Frau Mitrović, Ihr neuestes Stück heißt „Danke Deutschland“. Wofür | |
Dankbarkeit? | |
Sanja Mitrović: In der Performance geht es um zwei vietnamesische | |
Gemeinschaften in Deutschland. Die eine besteht aus Nordvietnames*innen, | |
die unter dem Dach des Gastarbeiterprogramms der DDR [1][als | |
Vertragsarbeiter*innen hierhergekommen] sind. Die andere Community sind | |
sogenannte Boatpeople aus Südvietnam, die in den 1970er Jahren nach | |
Westdeutschland geflohen sind. Ihre Erfahrungen mit Integration sind | |
unterschiedlich. Was sie aber verbindet, ist ein Gefühl der Dankbarkeit. In | |
Deutschland sahen sie eine Chance, ein neues Leben aufzubauen, ein anderes | |
als das, dem sie entkommen waren. | |
Der Titel ist also nicht ironisch gemeint? | |
Es gibt natürlich auch eine doppelte Bedeutung, denn einige Vietnames*innen | |
sind vielleicht nicht so dankbar. Viele von ihnen haben auch einen sehr | |
schwierigen Integrationsprozess erlebt und sprechen nicht wirklich darüber: | |
aus Angst, dass sie weggeschickt werden oder weil sie einfach glauben, dass | |
ihre Position in Deutschland gefährdet wäre. | |
Das brennende Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen 1992 ist ein tief | |
bewegendes Bild, das einem in Zusammenhang mit vietnamesischen | |
Migrant*innen in Deutschland einfällt. | |
Das Stück spricht darüber und auch über dieses Schweigen in der | |
vietnamesischen Gemeinschaft. Sie wollen nicht öffentlich über diese Dinge | |
reden. Sie wollen sich nicht auf die Vergangenheit konzentrieren, sondern | |
auf die Zukunft. Und für viele von ihnen war die Erfahrung einfach zu | |
traumatisch. Diese Dankbarkeit wird dann in gewisser Weise fragwürdig. | |
Ist Integration also lediglich ein Prozess des Schweigens? | |
Nicht wirklich, denn ich glaube, dass Integration immer ein gegenseitiger | |
Prozess ist. Beide Seiten lernen voneinander, im Gegensatz zur | |
Assimilation, die nur eine Annahme und keine Hinterfragung bedeuten würde. | |
Heute wird Integration in einem ultrakonservativen Diskurs allzu oft als | |
eine Einbahnstraße betrachtet. Sie ist aber eher ein Kreisverkehr. | |
Wer erzählt davon auf der Bühne? | |
Die Besetzung besteht sowohl aus Ensemblemitgliedern der Schaubühne als | |
auch aus vietnamesischen Mitgrant*innen aus Nord- und Südvietnam sowie | |
Deutsch-Vietnames*innen der zweiten Generation, die über ihre Erfahrungen | |
sprechen. Einige haben zwar bereits ein wenig Bühnenerfahrung, sind aber | |
keine professionellen Schauspieler*innen. | |
Bewältigt die zweite Generation ihre Vergangenheit anders als die erste? | |
Für die zweite Generation ist es viel einfacher, gemeinschaftsübergreifende | |
Beziehungen aufzubauen, weil sie nicht die Ost-West-Trennung erlebt haben. | |
Die erste Generation von Nord- und Südvietnames*innen haben wenig Kontakt | |
untereinander. Für die zweite Generation ist es weniger problematisch, | |
diese Kluft zu überbrücken. Sie sind zudem eher bereit, über bestimmte | |
Themen zu sprechen und bei rassistischen Angriffen gegen ihre Community an | |
die Öffentlichkeit zu gehen. | |
Sie sind im ehemaligen Jugoslawien aufgewachsen, einer gespaltenen Region | |
mit ihrem eigenen Konflikt. Was hat Sie dazu bewegt, ein Stück über Vietnam | |
und Deutschland auf die Bühne zu bringen? | |
Zum einen hat mich meine eigene Einwanderung nach Westeuropa dazu gebracht, | |
zum anderen aber auch das sehr seltsame Gefühl, das ich hatte, als meine | |
Heimat zusammengebrochen ist. Plötzlich wurde ich von einer Jugoslawin zu | |
einer Serbin – etwas, womit ich mich nicht identifizieren konnte. Ich | |
erlebte den Zerfall meines Landes. Aber mit Vietnam war das Gegenteil der | |
Fall: Sie vereinigten sich, konnten aber keine neue Identität finden. | |
Dieses Problem der Anpassung an neue soziale und politische Systeme ist | |
etwas, was mich sehr interessiert. Ob Jugoslawien, Vietnam oder | |
Deutschland, wir werden alle von politischen Systemen manipuliert, die uns | |
für ihre eigenen ideologischen Zwecke benutzen wollen. | |
Ihre dokumentarischen Stücke wirken oft sehnsüchtig. Was vermissen Sie? | |
Es geht darum, Dinge wieder ans Licht zu bringen, die vergessen oder | |
marginalisiert wurden. Ich habe ein Bedürfnis, über eine Vergangenheit zu | |
sprechen, die in vielen offiziellen Geschichtsbüchern einfach nicht | |
vorkommt. In „Comrades, I’m Not Ashamed of My Communist Past“ zeige ich | |
Szenen aus ungefähr 50 jugoslawischen Filmen. Das dient auch dazu, uns | |
daran zu erinnern, dass wir ein sehr reichhaltiges Kino hatten, was oft | |
vergessen wird. Meistens geht es nur um Krieg, wenn wir über Jugoslawien | |
reden. | |
In diesem Stück trauern Sie auch um den Verlust von Werten wie Solidarität | |
und soziale Gerechtigkeit. Ist das nur Tito-Nostalgie? | |
Nein, aber natürlich spreche ich von dieser Zeit als Kind. Das sind | |
Erinnerungen an meine Jugend. Und man denkt als Kind anders über die Dinge | |
nach. Ich bin keine Jugonostalgikerin, denke aber, dass einige der Werte, | |
die wir sehr schätzten, verloren gegangen sind. Genauso wie mit der DDR. | |
Geschichte wird von den Gewinnern geschrieben. | |
Auf jeden Fall. Es ist eine gewöhnliche Strategie revisionistischer | |
Narrative, ganze Errungenschaften und gelebte Erfahrungen wegzufegen, die | |
nicht zu ihrer neuen Ideologie passen. Zum Beispiel Solidarität, | |
Arbeitnehmerrechte und das Streben nach sozialer Gleichheit. | |
Sind aber Konzepte wie soziale Gerechtigkeit und Solidarität überhaupt mit | |
Autokratie vereinbar? | |
Im Realsozialismus gab es wenigstens keine Konkurrenz in diesem Sinne. | |
Privateigentum stand nicht im Mittelpunkt, sodass kein individueller | |
Wettbewerb erforderlich war. Jetzt konkurrieren wir immer mehr, um unser | |
eigenes Privatvermögen zu erwerben und zu erhöhen. Und wenn man von der DDR | |
als Stasistaat spricht, kann man sich auch fragen, in was für einem System | |
wir heute leben. Wenn wir aufwachen, unsere Laptops öffnen, auf Facebook | |
gehen, Foodora bestellen und in ein Uber hüpfen: Welche Art von Kontrolle | |
ist das? Wir alle wissen, was hier passiert, und akzeptieren es gerne, ohne | |
es infrage zu stellen. | |
Sie sind derzeit Artist in Residence im Centre Dramatique National Orléans | |
in Frankreich. Dort haben Sie „My Revolution is Better Than Yours“ | |
entwickelt, ein Stück über die 1968er-Bewegung. Was bedeutet 1968 für Sie? | |
Der internationale Aspekt von 1968 ist für mich einer der interessantesten. | |
Jeder hat sein eigenes nationales 1968, aber oft vergessen wir, dass es | |
sich um eine globale Bewegung gehandelt hat. In Jugoslawien kämpften wir | |
für individuelle Freiheit, in Frankreich strebten sie vielleicht eher | |
danach, dahin zu kommen, wo wir als Gesellschaft waren (lacht). Belgrads | |
1968 fand aber im Juni statt im Mai statt. Wir haben also viel von den | |
Studierenden in Frankreich kopiert. Nicht nur in Bezug auf die | |
Organisation, sondern auch auf die revolutionäre Mode. Trotz der | |
Unterschiede sehe ich aber durch meine Recherche viele Muster, die sich | |
global wiederholten. Fünfzig Jahre später glaube ich allerdings, dass | |
unsere Kinder uns vorwerfen werden, nicht genug getan zu haben. Sie werden | |
viel mehr aufstehen als wir. Das sieht man schon darin, dass sie massenhaft | |
gegen den Klimawandel auf die Straße gehen. | |
4 Apr 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Vietnamesen-in-Deutschland/!5149000 | |
## AUTOREN | |
Nicholas Potter | |
## TAGS | |
Theater | |
Drama | |
Schaubühne Berlin | |
Festival | |
Lesestück Interview | |
Theater Berlin | |
Theater Berlin | |
Theater | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Heiner Müller | |
Burgtheater Wien | |
Behelfsetikett | |
Zeitgenössischer Tanz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Theater in Zeiten von Corona: „Wir heulen“ | |
Ein abgesagtes internationales Festival und eine Premiere in der Schaubühne | |
in Berlin: Ein trauriger Rahmen um ein trauriges Stück Dystopie. | |
Premiere an der Berliner Schaubühne: Die Furcht auf dem Lande | |
Fremden zu helfen, ist gefährlich: Die belgische Regisseurin Anne-Cécile | |
Vandalem inszeniert in „Die Anderen“ in Berlin ein düsteres Zukunfstbild. | |
Premiere von Nicoleta Esinencu in Berlin: Vertreibung böser Geister | |
Patriarchat, Staat, Kapitalismus – alles wird mit Besen und Lärm vertrieben | |
in Nicoleta Esinencus Performance „Die Abschaffung der Familie“ in Berlin. | |
Webdoku zu Migranten in der DDR: Solidarität und Wirklichkeit | |
Sie kamen als Vertragsarbeiter*innen oder politische Geflüchtete in die | |
DDR. Eine Webdokumentation widmet sich ihren Geschichten. | |
Skandal-Revival am Deutschen Theater: Bauer mit roter Fahne | |
Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ am Deutschen | |
Theater Berlin, inszeniert von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner. | |
Andrea Breth am Burgtheater Wien: Ein großer Abgang | |
Die Regisseurin Andrea Breth verabschiedet sich vom Wiener Burgtheater mit | |
einer fulminanten Inszenierung von Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“. | |
Kolumne Behelfsetikett: Vergesst Eidinger! | |
Wenn es in der Schaubühne immer „ausverkauft“ heißt, hat man gar keine Lu… | |
mehr, dorthin zu gehen. Gibt ja auch andere Theater. | |
Zeitgenössischer Tanz aus Afrika: Angewandte Körperpolitik | |
Mit dem Festival „Timbuktu Is Back“ bringt der Kurator Alex Moussa Sawadogo | |
Malis Hauptstadt zurück auf die Weltbühne des zeitgenössischen Tanzes. |