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# taz.de -- Fotoausstellung in Berlin: Verlust und Versehrung
> Johanna Diehls Einzelausstellung „In den Falten das Eigentliche“ im Haus
> am Waldsee. Oder: die falschen Bilder der westdeutschen Nachkriegszeit.
Bild: Johanna Diehl: In den Falten das Eigentliche, Installationsansicht, Haus …
Die Fotografin Johanna Diehl stöberte erst lange an den Rändern Europas
herum. Sie brachte faszinierende Aufnahmen von verlassenen und umgewidmeten
Synagogen in der Ukraine und von in Moscheen verwandelten Kirchen aus
Zypern mit. Sie entdeckte Ruinen der Architekturavantgarde in Südfrankreich
und verlassene Stätten des Landwirtschaftentwicklungsprogramms unter Benito
Mussolini in Süditalien. Jetzt spürt sie in der Ausstellung „In den Falten
das Eigentliche“ dem Verschwiegenen und Verdrucksten der westdeutschen
Nachkriegszeit nach.
Der Titel geht zurück auf Walter Benjamin. Der Philosoph sprach von
Erinnerungen die aufklappen wie ein Fächer, wobei in den Falten das
Eigentliche, längst Vergessene wieder zum Vorschein komme. Statt eines
aufzuklappenden Geschichtsfächers erbte Johanna Diehl jede Menge
Notizbücher ihrer Großmutter. Von 1936 bis 2009 vermerkte die Dame darin
die Termine ihres Lebens. Es fanden sich darin also sachliche Notizen,
Emotionales kam nicht zur Sprache, so die Enkelin. Auf der Suche nach den
unauffindbaren Gefühlen befragte auch der Sohn seine Mutter sehr
eindringlich.
Diesen Brief stellt die Enkelin jetzt in ihrer ersten institutionellen
Einzelausstellung „In den Falten das Eigentliche“ im Haus am Waldsee aus.
Der Vater, 1942 geboren und 1983 durch Selbstmord aus dem Leben geschieden,
fragte zwei Jahre vor seinem Tod unter anderem: „Wann betreute mich welches
Kindermädchen? Wie zärtlich warst du mit welchem Sohn? Was empfandest du
bei wie vielen Bombenangriffen nach meiner Geburt? Wann wurde von wem die
Hundepeitsche benutzt?“ Es sind Fragen, die auf seelische Nöte schließen
lassen.
## Die Kinderbilder fehlen
Diehl stellt auch Digitalprints der Urlaubsdias ihrer Großeltern aus. Auf
denen sieht man die Großmutter aus einem imposanten Wigwam in Kanada treten
und auf einer Sonnenliege gleich neben einer Palme sitzen. Das Auge trifft
auch auf ein imposantes Kreuzfahrtschiff, das von einem Gewimmel kleinerer
Boote umgeben ist. Was man auf den Fotos so gut wie nie sieht, auch nicht
auf denen, die Diehl nicht in die Ausstellung brachte, sind die Kinder der
Reisenden.
Historisch ist dies nachvollziehbar. Reisen traten in jenen Jahren die
Erwachsenen meist ohne Sprösslinge an. Und die hatten auch noch nicht ihre
eigenen Facebook- und Instagram-Accounts, auf denen sie ihre
Befindlichkeiten visuell kundtun konnten. Diehl deutet diese Absenz des
Vaters auf den Urlaubsfotos als Lücke. Und die will sie sichtbar machen.
Mit künstlerischen Mitteln natürlich.
Zwischen die Botschaften all des Seefahrer- und Sonnenbaderglücks setzt
Diehl an zwei Fotowänden Aufnahmen von Objekten, die an Prothesen und
Korsette erinnern, an Körperzähmungs- und Mängelkompensationsinstrumente
also. Es handelt sich dabei aber nicht direkt um medizinische Apparaturen,
sondern um Requisiten des Choreografen Johann Kresnik.
## Die von den Eltern verlassenen Kinder
„Er gab sie in der Inszenierung `Hänsel und Gretel` an der Volksbühne den
Tänzern, um deren Bewegungen einzuschränken“, erzählt Diehl der taz. Für
sie sind diese Ausstattungsstücke Symbole von Verletzung, Versehrung und
Verdrängung. „Kresnik hat ‚Hänsel und Gretel‘ in seiner Arbeit auch als
ausgesetzte, als von ihren Eltern verlassene Kinder gesehen“, meint Diehl.
Der Dialog der historischen Fotos mit den inszenierten Kostümteilen ist
fruchtbar. Die Spur von Verlust und Versehrung schreibt sich in die auf den
ersten Blick unschuldig wirkenden Urlaubsfotos ein.
Diehl verfolgt in dieser Ausstellung aber auch noch andere Wege der
Sichtbarmachung einer Zeit. Auf einer weiteren Fotowand konfrontiert sie
Aufnahmen der Wohnräume ihrer Großeltern mit Aufnahmen von Klangerzeugern
elektronischer Musik aus jener Zeit. Musikavantgarde versus
Einrichtungsbiedermeier – auch dieser Kontrast zeichnete die 1950er und
1960er Jahre aus.
## Die Sitzgruppe mit und ohne Hitlerporträt
Eine Sitzgruppe aus Esstisch und Stühlen aus jener Zeit fand Diehl im
Familienalbum auch auf einem Foto aus der NS-Zeit wieder. Neben dem
Esstisch prangte da noch ein Hitlerporträt – verdrängte Kontinuitäten, die
erst mit der Konfrontation der verschiedenen Fotos ins Auge fallen.
Diehl verknüpft in diesem Zusammenhang auf eine besondere Art auch ihre
beiden Herkunftsfamilien. Dem Schweigen – und dem Selbstmord – in der
väterlichen Linie steht die eher gestaltende mütterliche Linie gegenüber.
Bruder ihres Großvaters mütterlicherseits war der documenta-Gründer Arnold
Bode.
Als Belastung oder Erschwernis empfindet die Künstlerin dieses Erbe nicht.
Von einem von Bode geprägten Begriff, dem des visuellen Begreifens, lässt
sich die 42-jährige Künstlerin bei dieser Ausstellung auch leiten. Die
Anordnung von Bildern zur Erkenntnisgewinnung ist zentraler Aspekt von „In
den Falten das Eigentliche“.
11 Dec 2019
## AUTOREN
Tom Mustroph
## TAGS
zeitgenössische Kunst
zeitgenössische Fotografie
Nachkriegszeit
Theater Berlin
Algorithmen
Beutekunst
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