# taz.de -- Festival „Radikal jung“ in München: Bleibende Spur von Schmerz | |
> Frauen können auch böse: Das zeigt das Festival „Radikal jung“ in Münc… | |
> mit Gastspielen, vor allem von Regisseurinnen, aus New York und Berlin. | |
Bild: „Hallo, ich bin Julia“, beginnt „(50/50) Old School Animation“ vo… | |
„Hallo, ich bin Julia. Ich werde jetzt zwanzig Minuten lang sprechen, dann | |
beginnt eine Performance. Ist das okay?“ So schlicht und auf Übereinkunft | |
bedacht beginnt „(50/50) Old School Animation“ vom Public Theatre New York. | |
Die erste Einladung zum Münchner Regiefestival „Radikal jung“ aus den USA | |
ist neben Camille Dagans „Durée d’exposition“ aus Frankreich, das in der | |
Engführung von analoger Fotografie mit dem Verlust einer geliebten Person | |
die Unwiederbringlichkeit des Moments feiert, eine der diesmal raren | |
Festival-Entdeckungen. | |
Beide Arbeiten sind kleinformatig. In beiden ist die bezaubernde oder | |
bedrohliche Atmosphäre wichtiger als das Geschehen. In „(50/50)“ steht | |
Julia Mounsey alleine auf der kleinen Bühne des Münchner Volkstheaters und | |
erzählt von ihrem Körper, der ihr Streiche spielt. Ein um den anderen | |
Geburtstag lag sie krank im Bett. Mittlerweile hat sie ihn von sich | |
abgespalten und seine Weisheit anerkannt: Ihr Körper bestraft sie zu Recht: | |
Denn sie ist böse. | |
Das Lachen darüber verwandelt sich rasch in ein Würgen, denn wie Mounseys | |
Beschreibung von kleinen Gemeinheiten gegen ihre beste Freundin bis zur | |
wilden Entschlossenheit voranschreitet, eine bleibende Spur von Schmerz zu | |
hinterlassen, lässt einem den Atem stocken. Gerade weil man diese kleine | |
ernste Person nicht mit dem nüchtern, fast technisch Geschilderten in | |
Einklang bringt. | |
## Sind wir alle ein bisschen Julia? | |
Dass der Titel des Abends auf ein im Netz kursierendes Video hinweist, in | |
dem eine Frau aus ihrer Haut geschält wird, wollte ich gar nicht weiter | |
verifizieren. Ging doch dessen Beschreibung bereits an die Grenze dessen, | |
was frau an Gewalttätigkeit gegen ihresgleichen imaginieren kann. | |
Vielleicht deshalb fällt der zweite Teil des von Mounsey gemeinsam mit | |
Peter Mills Weiss inszenierten Abends ab. | |
Mo Fry Pasic spielt darin die systematisch gequälte Freundin, und ihr | |
unentwegtes Girlie-Geplapper über Kosmetik und die Konsistenz von veganem | |
Käse reduziert die Empathie für jene Szenen, in denen man sie weinen und | |
kotzen sieht. Sind wir also alle ein bisschen Julia? | |
Das Programm des Festivals „Radikal jung“, das nach 9 Tagen am 5. Mai | |
zuende ging, spicken Frauenkörper und -rollen, Weiblichkeitsbilder und | |
-Klischees. Vom Regisseurinnenanteil kann das gerade probeweise die | |
Frauenquote einführende Berliner Theatertreffen nur träumen. Die 15 von | |
einer übrigens zu zwei Dritteln männlichen Jury eingeladenen Inszenierungen | |
wurden von 14 Frauen und 5 Männern inszeniert. Die schiefen Zahlen kommen | |
durch Regie-Teams zustande. | |
## Verzicht auf den Schlussapplaus | |
Und einige männliche Regisseure wie Florian Fischer („Operation Kamen“) | |
wiesen in Interviews oder durch den Verzicht auf den Schlussapplaus das | |
Primat für den schöpferischen Gesamtkomplex von sich. Ist also der | |
Regie-Begriff bald obsolet und der Regie-Macker perdu? | |
Allenfalls in der Münchner Festivalblase. Nach wie vor sind Frauen an | |
Theatern unterrepräsentiert und ihre Arbeiten werden auf Nebenbühnen | |
abgeschoben. Aber ist es nicht trotzdem old-fashioned, mittels Quote die | |
Gender-Dualität zu zementieren? | |
Welchem Geschlecht würde man dann etwa Julia*n Meding zurechnen, der/die | |
gemeinsam mit Anta Helena Recke in „Angstpiece“ seine/ihre Agoraphobie zu | |
therapieren vorgibt? Meding bezeichnet sich selbst als „nonbinary-trans!“ | |
und „neurodivers“ und kreiert an diesem leider nur langatmigen Abend eine | |
Kunstfigur, die mit ihren ungelenken Bewegungen und einer die Worte | |
zerkauenden Sprechweise in Wahrheit die weiße heteronormative | |
Mehrheitsgesellschaft therapieren will. | |
## Das Mädchen, das er hätte werden sollen | |
Dazu aber müsste Julia*n ein bisschen mehr wie Lester Arias sein. Der | |
entwickelt unter dem Alias Ariah Lester in „White (Ariane)“ eine ebenfalls | |
zwischengeschlechtliche, aber ungleich glamourösere Kunstfigur. Wenn Lester | |
die Briefe seiner Mutter an das Mädchen, das er hätte werden sollen, singt, | |
ist das ein Ereignis. Lester/Ariah hat Stimme, Seele und mehr als nur einen | |
Hang zum (Erlösungs-)Kitsch. Er gibt die hypersexualisierte Femme fatale | |
und den gefallenen Engel, der die zerfledderten Flügel auf seinem Rücken | |
ausbreitet, um seine Mutter, die nicht Tänzerin, und seine Großmutter, die | |
nicht Sängerin werden durfte, nachträglich zu befreien. | |
Zwischen einer Kindheit in Venezuela und einer Zukunft als Weltstar bringt | |
er in einer seltsamen Eucharistie-Feier dem Publikum seinen Leib zum Opfer. | |
Seine emotionale Bedürftigkeit ist zwar zudringlich, aber auch irgendwie | |
besonders. Denn er hat eine Mission, weshalb seiner Show nicht, wie | |
erstaunlich vielen anderen, mittendrin die Luft ausgeht. | |
Zum Beispiel Christina Tscharyiskis Doppelabend vom Berliner Ensemble, der | |
aus Stücken von Marlene Streeruwitz (Mar-A-Lago“) und Alice Birchs „Revolt. | |
She Said Revolt Again“ eine uneinheitliche (post)feministische Groteske | |
zimmert, deren erste Szene einen grandiosen Furor hat: Anita Vulesica | |
versucht darin das sprachlich geäußerte Begehren ihres männlichen Partners | |
ebenfalls verbal zu toppen. Spricht er vom Finger in ihr drin, verspricht | |
sie ihm die Faust – und mit dem verqueren Satz „und ich stecke meine Vagina | |
auf dich drauf zuerst“ kommt dieser Zusammenprall von überspannter | |
weiblicher Selbstermächtigungsprosa mit exaltierter Körpersprache zu einem | |
triumphalen Höhepunkt. Doch während Birch scharf schießt, bläst Streeruwitz | |
nur Zickenklischees auf, wogegen auch die gewitztesten Regieideen nicht | |
ankommen. Schade! | |
7 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Sabine Leucht | |
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