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# taz.de -- Regiefestival „Radikal jung“ in München: Im Wohnzimmer der See…
> Depression, Game-Nerds und Rollentausch: Das 14. Festival „Radikal jung“
> bewies ein genaues Gespür für die großen Regisseure von morgen.
Bild: Szene aus dem Stück „Ja, eh! Beisl, Bier und Bachmannpreis“ von Stef…
Stefanie Sargnargel, sagt Christina Tscharyiski, fand es seltsam, ihre
eigene Depression in einem Musical vorgeführt zu bekommen. Mit Musical,
widerspricht C. Bernd Sucher, habe der Abend nichts zu tun. Stattdessen
bezeichnet er ihn als „Nestroy-Revue für das 21. Jahrhundert“. Nun ist
Tscharyiski die Regisseurin von „Ja, eh! Beisl, Bier und Bachmannpreis“,
das am Samstag das Regiefestival Radikal jung am Münchner Volkstheater
beendete – und Sucher (nur) Teil der Jury, die das Festival alle Jahre
wieder mit aufsehenerregenden Arbeiten von Regisseuren bestückt, die das
30. Lebensjahr möglichst noch vor sich haben. Regie-Generationenwechsel
vollziehen sich hier im Jahrestakt. Und die aktuelle Generation scheint
mehr denn je auf der Suche zu sein: auf der Suche nach ihrem Platz in der
Welt und/oder im Theater, auf der Suche nach Geschichten aus dem wahren
Leben.
In „Ja, eh!“ vom Rabenhof Theater Wien zum Beispiel lässt die Regisseurin
drei wunderbare Schauspielerinnen auf den Bachmannpreis-Text „Penne vom
Kita“ los, in dem Sargnargel furios beschreibt, wie jeder „schreckliche
Auftragstext“ ihr „inneres Poesievögelchen“ schwächt und ihr die Energie
nimmt, „die ich eigentlich zum Rumhängen brauchen würde“. Für die
„muskulösen Seelen“, die ihr Leben im Griff haben, hat Sargnagels
Erzählerinnen-Ich ebenso viel zärtliche Bosheit übrig wie für ihre eigene
Antriebslosigkeit. In Beisln – den Wiener Äquivalenten einer Eckkneipe –
hält sich diese Erzählerin mit Bier geschmeidig, sehnt sich aber heimlich
nach dem „Wandverbau“, der in ihrem „seelischen Wohnzimmer“ fehlt.
Eine verwunschene Version eines solchen Spießer-„Verbaus“ dominiert Sarah
Sassens Bühne. Er beherbergt zauberische Schreine, gibt aber auch den Blick
auf Betten und einen Kneipentresen frei – und auf Miriam Fussenegger,
Saskia Klar und Lana Kalisch, die als Sargnargel-Wiedergängerinnen löchrige
Pullis und Jogginghosen über dezenten Fatsuits tragen. Wie Sargnagel
flirten sie mit der Prokrastination, dem Unperfekten, der schlechten Laune
und dem Fäkalhumor, aber auch mit dem Publikum: zähneputzend, tanzend, mal
auch kotzend. Es ist halt der „Grind“, der den „Wiener Stil“ ausmacht.
Zwischendurch steuert der vorstadtstrizzihafte Ex-Friedhofsgärtner Voodoo
Jürgens Songs aus dem Milieu bei, deren morbide Derbheit gut zum Rest
passt, auch wenn man die Texte als Nicht-Wiener kaum versteht und beide
Schienen der Aufführung beziehungslos nebeneinander herlaufen.
## Humorvoll in Selbstzweifel hineingraben
Das Publikum, das jedes Jahr einen Preis vergibt, wusste diesmal pointierte
Texte zu schätzen und Akteure, die sich so hingebungs- wie humorvoll in
Selbstzweifel hineingraben. Denn „Ja eh!“ musste sich den Preis mit der
Volkstheater-Eigenproduktion „Children of Tomorrow“ teilen, in der vier
junge Schauspieler die Option Familiengründung von wirklich allen Seiten
abklopfen. Corinne Maiers und Tina Müllers rasanter Text operiert durchweg
im Futur. Überhaupt sind Maiers Inszenierungen ein frischer, sehr kluger
Spaß, der die Generation Y im Schraubstock des Perfektionszwanges
porträtiert, gegen den sich etwa Sargnargel stemmt.
Doch nicht alle jungen Regisseure gehen vom Inhalt aus. Bei Wilke Weermann,
der Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ am Staatsschauspiel Stuttgart auf die
Bühne brachte, sprechen und bewegen sich die Schauspieler wie Figuren eines
Computerspiels. Der Game-Nerd wird anhand der unterschiedlichen Arten, wie
die Schauspieler hier selbst kleine Bewegungen umständlich ein- und
auspendeln lassen, möglicherweise konkrete Spiele erkennen. Die
Theaterkritikerin denkt bei den maskenhaften Gesichtern an Susanne Kennedy
oder Ersan Mondtag, fühlt sich alt und vermisst die Substanz in der
virtuosen, aber ermüdenden Version der Dystopie aus dem Jahre 1953, in der
die Feuerwehr Bücher verbrennt, um eine Gesellschaft ohne Vergangenheit zu
erschaffen. Bradburys Rumpfgeschichte gibt es hier zwar auch, aber sie
gerät zur Nebensache.
Fünf der acht Regisseurinnen und fünf Regisseure beim diesjährigen Radikal
jung haben sich Prosatexte geschnappt, sechs haben Projekte entwickelt,
eigene Texte oder gleich sich selbst inszeniert und nur zwei zum
klassischen Theaterstück gegriffen. Pinar Karabulut, deren Entwicklung das
Festival seit drei Jahren dokumentiert, beweist mit „Romeo und Julia“ vom
Schauspiel Köln, dass ihre Inszenierungen ihr enormes Energielevel
(be)halten – und ihren Willen zur Originalität: Zwischen lauter Drehtüren
aus Glas weigert sich ihre burschikose Julia (Kristin Steffen) am Schluss
zu sterben, obwohl dem Liebespaar hier von Beginn an Totenmasken ins
Gesicht geschminkt sind, die im Laufe des Abends nur verwischen, nie
verschwinden.
## Regiebegriff wird zur Diskussion gestellt
Bemalte Gesichter gibt es auch in Philipp Arnolds Fassbinder-Inszenierung
„Tropfen auf heiße Steine“ vom Deutschen Theater Berlin. Unter der weißen
Schminke von Bernd Moss zuckt es gewaltig, als sein Leopold den jungen
Franz in sein Liebesnest lockt, das sich zu einem kleinen schwarzen Raum
zusammenzieht. Schnell, sehr schnell konsumieren sich Liebe und Lust hier
selbst; die Gesellschaft als Ursache bleibt außen vor und die anfangs
beeindruckende Balance aus Überzeichnung der Figuren und nervösem
Hochspannungsschauspiel kippt, weil Arnold die Frauenfiguren zu grob
geraten – obwohl die wunderbare Natali Seelig eine von ihnen spielt.
Sein seismografisches Gespür für die großen Regisseure von morgen stellt
Radikal jung seit 14 Jahren unter Beweis. Und fast ebenso lange stellt das
Festival den Regiebegriff zur Diskussion. Was etwa bedeutet Regie bei Anta
Helena Reckes sogenannter Schwarzkopie von „Mittelreich“, für die sie
Anna-Sophie Mahlers Inszenierung von Josef Bierbichlers Roman eins zu eins
kopiert hat und lediglich die weißen Schauspieler durch schwarze ersetzt?
In die starren Vorstellungen vom Regisseur ist Bewegung eingekehrt:
Schauspieler führen Regie, Regisseure performen. Man überprüft, wo man
hingehört.
Besonders toll gelungen ist der Rollentausch bei „Bilder deiner großen
Liebe“ vom Thalia Theater Hamburg, einer Gemeinschaftsarbeit der
Schauspielerinnen Marie Rosa Tietjen und Birte Schnöink, bei der die eine
am Ende als Regisseurin fungiert und die andere auf der Bühne steht. Der
Abend ist eine zarte Annäherung an die komplexe innere Welt des Mädchens
Isa aus Wolfgang Herrndorfs Roadmovie „Tschick“, die der an einem Hirntumor
Verstorbene in seinem postum veröffentlichten Romanfragment zur
„Herrscherin des Universums“ machte. In Schnöinks
federleicht-konzentriertem Spiel halten sich Todessehnsucht und die
kindliche Neugier auf das Leben die Waage, sie spielt mit Wind- und
Nebelmaschinen und möbliert unsere Fantasie mit ihren Blicken und
Herrndorfs Worten, in denen das Schöne und das Traurige immer ganz nah
beieinanderliegen.
Während Herrndorfs Krankheit das Stück nur grundiert, zerrt Noam
Brusilovsky die seine auf die Bühne. In „Orchiektomie rechts“ führt der
gebürtige Israeli die Krankheitsgeschichte seines Hodenkrebses mit der
griechischen Tragödie zusammen. Mit Charme und Kindergeburtstagsvideos
schafft er eine fast familiäre Erzählsituation, in der er dem Publikum sehr
sachlich Röntgenaufnahmen seines Tumors zeigt, um ihm urplötzlich seine
sexuellen Fantasien um die Ohren zu hauen. Der Abend ist so hemmungslos
exhibitionistisch wie klug gebaut und entlässt einen mit Fotos imposanter
Schwänze und neuen Fragen nach der Autorenschaft über das eigene Leben. Und
das mit den Fragen ist doch immerhin gut.
23 Apr 2018
## AUTOREN
Sabine Leucht
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