# taz.de -- Resozialisierung im Gefängnis: Das Gitter öffnen | |
> Theater und Meditation in der Haft: Das ist kein Luxus, sondern kann | |
> Lichtblick und Therapie bedeuten. Eine Reise hinter Mauern. | |
Bild: Alles Theater: Probe der Gefangenentruppe von aufBruch in der Haftanstalt… | |
BUTZBACH/BERLIN/HOHENASPERG taz | Sven Regler ist ein schlauer Mann. Man | |
kann sich gut vorstellen, wie er früher mit einem schicken Auto durch die | |
Gegend fuhr, seine Kinder zum Sportverein oder in die Musikschule brachte | |
und abends, nach der langen Arbeit, für seine Frau noch eine ausgesprochen | |
gute Pasta kochte. Womöglich lebte er in einem Haus mit reichlich Platz, | |
vielleicht hatte er einen Garten. | |
Regler war lange Zeit Angehöriger des Teil des Strafsystems, das von den | |
13,7 Milliarden Euro Gesamtausgaben im Jahr einen fetten Brocken abbekommt: | |
9,3 Milliarden für ordentliche Gerichte und Staatsanwaltschaften. 3 | |
Milliarden fließen in die Haftanstalten. Doch Regler ist abgefallen. Von | |
seinem hohen gesellschaftlichen Status mit Einfamilienhaus und Anzug bleibt | |
eine steinige Zelle und eine rote Uniform. Regler ist nicht einer, der | |
schnell wütend wird. Ihm gehört die Sprache. Eine Sprache, die ihm im | |
Gefängnis wenig nützt. Einmal da drin, findet sie kaum Gehör. „Das | |
Gefängnis ist ein Ort flanierender Gewalt“, sagt er. | |
Ein Riss zieht sich durch den Mann, der am Tisch sitzt und den Gesprächen | |
eher lauscht, als zu intervenieren. Wenn Sven Regler etwas sagt, dann | |
überlegt. Alle Männer am Tisch sind Langzeitgefangene der hessischen JVA | |
Butzbach. Sie sind Teil eines evangelischen Gesprächskreises, den der | |
Gefängnispfarrer, Kriminologe und promovierte Sozialwissenschaftler Tobias | |
Müller-Monning leitet. Ein großer Mann mit warmen Augen, seine untere | |
Gesichtshälfte ist bartverwachsen. In der Mitte des Tischs liegt ein gelbes | |
Heft, das kurz zuvor herumgegangen ist: Die Gefängnisseelsorge hat 2017 ein | |
Zukunftspapier veröffentlicht. Müller-Monning hat daran mitgearbeitet. | |
Gefordert wird: ein Umdenken im Strafvollzug. Eine sozialpolitische | |
Entwicklung, die die Haftpopulation senkt. Eine Reform der | |
Strafgesetzgebung, beispielsweise durch die Abschaffung der | |
Ersatzfreiheitsstrafe. | |
Von ihrer Identität bleibt den Männern am Tisch so viel wie vom Kuchen auf | |
den Papptellern vor ihnen: Krümel. Die Aussortierung sitzt. Mindestens | |
einmal in der Woche kommt es im knapp 800 Mann starken Gefängnis zu | |
Ausschreitungen. „Kein Wunder an diesem Ort“, sagt einer der Gefangenen und | |
wirft sich fünf Stücke Zucker in den Kaffee. Was einem im Gefängnis | |
abhanden kommt, ist Ruhe. Stimmengewirr fegt dröhnend durch die Luft, es | |
kommt von überall. Wenn eine der massiven Eisentüren schließt, fräst sich | |
ein unerbittlicher Ton durch die Poren der dicken Wände durchs Gebäude. In | |
der Zelle kann man kaum ganz die Hände ausstrecken, ohne auf Stein zu | |
stoßen. Die kalte Wand starrt einen an, das Fenster verhöhnt mit seinem | |
hohen, nicht erreichbaren Sitz. Es riecht nach altem Essen und | |
abgestandenem Rauch. | |
Sven Regler hat seine Frau umgebracht. Wenn er das sagt, hat man das | |
Gefühl, ein Teil von ihm stirbt dabei mit. Es war keine kalkulierte Tat, | |
sondern die Sicherung, die von der einen auf die andere Sekunde explodiert | |
ist. Bei vielen Gefangenen seines Strafmaßes brennt sie langsam durch, es | |
sind verschmorte Biografien mit vielen Haftaufenthalten. Geschichten vom | |
stetigen Schrumpfen der Möglichkeiten bis zur totalen Gleichgültigkeit. | |
Diese Geschichten treffen im Gefängnis aufeinander. Kriminelle Subkulturen | |
bilden sich, Männerdominanz beherrscht die Begegnungen. | |
## Realität entspricht nicht dem Strafvollzugsgesetz | |
Das Strafvollzugsgesetz formuliert in Paragraf 2 die Vollzugsziele: Neben | |
dem Schutz vor der Allgemeinheit soll der Straftäter befähigt werden, | |
künftig in sozialer Verantwortung ein straffreies Leben zu führen. Das gilt | |
von der Jugendstrafe bis hin zur Sicherungsverwahrung. Doch fast jeder | |
zweite Inhaftierte wird nach seiner Entlassung wieder straffällig. Dann | |
soll Freiheit durch Freiheitsentzug eingeübt und beschädigte Beziehungen | |
sollen durch Ausschluss aus der Gesellschaft geheilt werden. Ein Paradox. | |
Sven Regler ist schuldig. Er wurde verurteilt, er sitzt dafür. Wird dadurch | |
das Gleichgewicht, das er durch seine Tat zerstörte, wiederhergestellt? | |
Sven Reglers Kinder sprechen noch mit ihrem Vater. Sie kommen ihn | |
regelmäßig besuchen. Auch mit seiner Schwiegermutter ist er in Kontakt. | |
Sein Gefängnisgehalt, ungefähr 200 Euro im Monat für eine Fünftagewoche, | |
behält er nicht für sich. Er teilt es und überweist es an seine Kinder. „Da | |
bleibt nicht mehr als ein Taschengeld“, sagt er bitter. Er kann seine | |
Schuld nicht in produktive Anteilnahme ummünzen, die Strafe weitet sich auf | |
das gesamte Familiensystem aus. | |
Kann man etwas tun, um die Gefangenen aus ihrem abgeschlossenen Alltag | |
herauszuholen? Welche Möglichkeiten gibt es, damit diese sich mit ihrer Tat | |
auch auseinandersetzen anstatt diese nur zu verdrängen? | |
Wie geschlossen das System nach außen hin ist, weiß Sibylle Arndt vom | |
Gefängnistheater aufBruch in Berlin. Die Produktionsleiterin ist seit | |
Gründungstagen bei der Initiative dabei. An einem Abend im März 2018 stehen | |
kleine Menschenknäuel vor dem Eingang eines stillgelegten Trakts der JVA | |
Tegel und warten darauf, hineingelassen zu werden. Es ist gerade noch hell, | |
Arndt koordiniert den Einlass. Sie hat die Namen und Anschriften aller | |
Besucher*innen auf einem ausgedruckten Papier vor sich liegen und streicht | |
die Ankommenden gewissenhaft durch. Das Publikum des Abends ist | |
durchmischt, ein paar englische oder spanische Wortfetzen, manche | |
erkundigen sich nach dem Probenprozess. Einer der Besucher sagt, man gehe | |
später noch in den Dorfkrug, eine Kneipe nebenan. Die Stimmung ist heiter | |
und gespannt, ein paar Nachzügler kommen hastigen Schrittes angelaufen. | |
Persönlichen Gegenstände werden in Schließfächern vor der Tür weggesperrt. | |
In Begleitung von Personal geht es durch einen Hof in kleinen Gruppen zum | |
Aufführungsort. Vorlage des Abend ist der berühmte Versroman „Parzifal“ v… | |
Wolfram von Eschenbach, den Richard Wagner später musikalisch unterlegte: | |
Gralskönig Amfortas hat das strenge Regelwerk seines Landes verraten und | |
windet sich körperlich und seelisch verletzt in Reue und Scham um den | |
verlorenen Gral. Der ritterlichen Gemeinschaft fällt er zur Last, ein | |
Anführer ist er fortan nur gewesen. Da erscheint Parsifal, ein reiner Tor. | |
Gewillt, den verlorenen Gral aufzutreiben. Er gerät dabei in extreme | |
persönliche Konfliktsituationen und wird immer wieder selbst schuldig. | |
## Mit Dürrenmatt und Kinski Persönlichkeit entfalten | |
Der Stoff wird angereichert mit Textauszügen aus der orwellschen | |
Überwachungsdystopie „1984“, Friedrich Dürrenmatts „Wiedertäufern“ u… | |
Klaus Kinskis „Jesus Christus Erlöser“. Das Publikum wird auf seinen Platz | |
geführt: eine kleine Tribüne, von der man in einen weitläufigen Gang | |
schaut. Dazwischen eine massive Gittertür, die während des Spiels immer | |
wieder geöffnet und geschlossen wird. Symbolisierung der Grenze, die | |
zwischen Besucher*innen und Gefangenen existiert. Heute spielt das Ensemble | |
das Stück zum letzten Mal. | |
Begleitet wird es von Musiker*innen der Musikhochschule Hanns Eisler | |
Berlin, realisiert in Kooperation mit den Berliner Philharmonikern. | |
Teilnehmende des Erasmus-Projekts Skills4Freedom sind anwesend, das sich | |
für die Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten von Exgefangenen und | |
externe Beschäftigungsangebote im Vollzug einsetzt. Seit 2018 werden | |
kreative Projekte wie aufBruch aus dem Justizhaushalt in Berlin gefördert. | |
20 Jahre hat das gedauert, so lange gibt es das Gefängnistheater schon. Die | |
Realisation externer Projekte im Gefängnis ist mühsam, es braucht die | |
Bereitschaft der JVAs, Bedienstete müssen die Gefangenen aus den Zellen | |
holen, bei Proben anwesend sein, die Aufführung koordinieren, die | |
Besucher*innen kontrollieren. Häufig scheitert die Umsetzung am | |
Personalmangel. | |
Als das Licht ausgeht, beginnt ein zartes Bestreichen der Instrumente. | |
Schwache Strahler werfen bunte Flecken auf die grauen Gefängniswände. Nach | |
oben hin ist der Raum offen. Wie über Balkone gelangt man zu den Zellen in | |
den höheren Stockwerken. Erster Auftritt im zweiten Stock. Ein Spieler | |
öffnet die Arme zur leidenschaftlichen Symbolisierung der Pein und sinniert | |
über Versuchung. „Das ist Disziplin“, sagt Sibylle Arndt vom | |
Gefängnistheater. Es brauche Training, Ausdauer und Geduld für das | |
Endprodukt. Zehn Wochen lang haben die Musiker*innen, das aufBruch-Team und | |
die Gefangenen täglich von 16 bis 20.30 Uhr geprobt – neben der | |
gewöhnlichen Arbeit. Der allmorgendliche Haftalltag beginnt um 6.30 Uhr. | |
„Klar gibt es Impulsschwächen. Aber wenn mal ein Spieler rumbrüllt, bleibt | |
die Gruppe gelassen. Weil sie weiß, dass die Person für das Ensemble | |
wichtig ist. Das wirkt dann auf die gesamte Gruppe deeskalierend.“ | |
Eine Stunde später, ein neuer Spielort. Im Duschraum auf Bierzeltgarnituren | |
sitzen die Besucher*innen an den Rändern des Raums eng aneinandergedrängt. | |
Selbstvergessen ist all ihre Aufmerksamkeit auf eine Szene bei der | |
Badewanne gerichtet. Es geht um Macht und deren Stabilisierung. „Seit | |
Beginn der geschichtlichen Überlieferung, und vermutlich seit dem Ende des | |
Steinzeitalters, gab es auf der Welt drei Menschengattungen“ heißt es, „die | |
Ober-, die Mittel-, und die Unterschicht. Da kommt nix zusammen.“ | |
AufBruch interessiert das künstlerische Endprodukt. Persönliche Geschichten | |
der Spieler können zwar Emotionen wecken, doch durch die Verallgemeinerung | |
eines literarischen Texts bekommt der Abend eine gesellschaftspolitische | |
Dringlichkeit. Um die direkte Repräsentation von Gefangenschaft vor der | |
Gesellschaft geht es nicht, sondern um die Gleichstellung mit ihr durch das | |
Medium Theater. „So begegnen wir ihnen auch. Auf Augenhöhe.“ Sibylle Arndt | |
betont, dass die Spieler mit der Presse nicht über ihre Taten reden müssen. | |
Es geht um sie als Schauspieler und nicht als Gefangene. Die Aussortierung | |
wird aufgehoben, zumindest an diesen Abend. | |
Am Ende der Aufführung großer Beifall für das Ensemble. Alle Beteiligten | |
werden auf die Bühnenfläche geholt. Einer der Spieler kramt einen Zettel | |
hervor und seine raue Stimme dringt durchs Chaos: Bedanken wolle man sich. | |
Beim gesamten Team, für die Möglichkeiten, sich zu entfalten. Die Zeit habe | |
alle geprägt und hinterlasse Spuren. Die Regieassistentin wird | |
hervorgehoben, die Menschen im Hintergrund. Den Regisseur packt man auf | |
einen Stuhl und wirft ihn zwanzigmal in die Luft. Dann kehrt Ruhe ein. | |
## Die Teilnehmer äußern sich positiv | |
Eng beieinander stehen Spieler und Zuschauende im hellhörigen Trakt und | |
unterhalten sich. Ein Spieler mit eine Zigarette lehnt auf der | |
Zuschauertribüne an einem Gitter. Dicke, grau werdende Haare. Mütze. „Es | |
macht Spaß“, sagt er. „Ich mach das seit vielen Jahren. Es ist immer etwas | |
Besonderes.“ Ein anderer hockt daneben, die Beine freigiebig von sich | |
gestreckt. Er nimmt sich eine Zigarette vom anderen. Seine Sprache habe er | |
verbessert. „Mein Deutsch war nicht so gut davor.“ Dann ist Einschluss. Die | |
Besucher*innen werden von den Bediensteten aus dem Gebäude gebeten. | |
Mittlerweile ist es dunkel draußen. Einige Laternen werfen grelles Licht an | |
die Backsteinfassaden. Das aufBruch-Team und die Musiker*innen gehen in den | |
Dorfkrug, die Spieler zurück in ihre Zellen. | |
Solche Projekte, betont Sibylle Arndt, seien nur möglich mit geringer | |
Teilnehmerzahl. AufBruch habe in der Vergangenheit auch schon Stücke mit 28 | |
Gefangenen gemacht, das war bisher das Maximum. „Irgendwann werden es zu | |
viele, da fällt die Gruppe auseinander.“ Dann verwalte man bloß Masse. „D… | |
ist der Alltag für die Justizvollzugsbeamten“, sagt sie. Auf überschaubare | |
Gruppen hingegen könne man großen Einfluss nehmen. | |
Kleinteilig, mit engem Kontakt zwischen Bediensteten, Sozialarbeiter*innen, | |
Therapeut*innen und Gefangenen, geht es auch in der | |
Sozialtherapeutischen Anstalt Hohenasperg in Baden-Württemberg zu. Auf | |
einem buckligen Hügel thront sie über den versprenkelten Kleinstädten im | |
flachen Land. An diesem Frühlingsmorgen schwingt sich die milde Sonne | |
mühelos über das steinige Gemäuer in den Innenhof. Eine Gruppe Gefangener | |
geht gemächlich in Begleitung zweier Frauen und verschwindet in einem der | |
Gebäude. Darin, im zweiten Stockwerk, ein Kirchenraum. Kaum Anzeichen | |
institutionalisierter Religiosität. Bloß ein lichtdurchfluteter, leerer | |
Saal. Die Gruppe nimmt sich Sitzkissen und ordnet sie in einen Kreis. Sie | |
setzt sich. Augen zu. Dann ist lange Zeit absolute Stille. | |
Die Forschung hat gezeigt, wie sich Meditation auf das Gehirn auswirkt: | |
weniger Dichte der grauen Substanz an der Amygdala. Sie spielt eine | |
wichtige Rolle bei der emotionalen Bewertung und Wiedererkennung von | |
Situationen. War ein Ereignis mit Schmerz behaftet, können als ähnlich | |
erachtete Situationen zu einer starken somatischen Situation, wie Panik | |
oder Ohnmacht, führen. Mehr Dichte produziert die Meditation dagegen im | |
Hippocampus und in Regionen, die für Selbstwahrnehmung und Mitgefühl | |
zuständig sind. | |
Bei der Meditation geht es um Ressourcen anstatt um Defizite, wie es | |
ansonsten üblich ist in der Sozialtherapie. Ziel ist die Wiederherstellung | |
und Bewusstmachung vorhandener Fähigkeiten. Um die Verbindung der Männer | |
mit ihren intakten Räumen im Inneren, sagt Christine Ermer, die Leiterin | |
der Sozialtherapeutischen Anstalt. „Und es ist etwas Besonderes, wenn du | |
als Gefangener von der Anstaltsleitung hörst, du seist intakt“, sagt | |
Henrike Schmidt, die zusammen mit Ermer die wöchentliche Meditation leitet. | |
## Mit Stille ein Nachdenken über die Tat auslösen | |
Nach Hohenasperg zur Therapie kommen hauptsächlich Sexual- und | |
Gewaltstraftäter. Es sind jene mit besonderem therapeutischen | |
Behandlungsbedarf, mit den langjährigen kriminellen Biografien, einer | |
Laufbahn durch überfüllte Gefängnisse dieses Landes. „Es hat einen Grund, | |
dass sie weggesperrt sind“, sagt Ermer. Doch in der Regel leiste sich das | |
System drei bis vier weitere Opfer, bevor sie überhaupt therapiert würden. | |
In der alten Festung wohnen sie in Wohngruppen von bis zu zwölf Leuten. Es | |
wird zusammen gekocht und gearbeitet, dazwischen ist Therapie. | |
Sozialtherapie senkt die Rückfallquote von Strafgefangenen um 20 Prozent. | |
Das verringert die Opferzahl. „Doch Erfolgs- und Misserfolgsquoten | |
interessieren wenig im gesellschaftlichen und medialen Diskurs“, sagt Bernd | |
Maelicke, Jurist und Sozialwissenschaftler. | |
Wenn Eierdiebe und Schwarzfahrer weggesperrt würden, dann gehe es darum, zu | |
zeigen, dass der Rechtsstaat handlungsfähig sei, sagt er. Das gegenwärtige | |
Gefangenensystem habe vor allem eine symbolische Wirkung. „Geschlossenen | |
Vollzug brauchen wir nur für gefährliche Täter, aber nicht in Gefängnissen | |
aus Kaisers Zeiten. Und die beste Resozialisierung sorgt für stabile | |
soziale Beziehungen, die können die Subkulturen in den Anstalten nicht | |
bieten, ganz im Gegenteil dominiert dort die gewaltbereite Kultur junger | |
Männer.“ Maelicke ist seit Jahren Verteidiger ambulanter Maßnahmen der | |
Bewährungshilfe und von freien Trägern der Straffälligenhilfe, 2005 erhielt | |
er für seine Arbeit das Bundesverdienstkreuz. „Wir brauchen gar nicht mehr | |
Geld im System“, sagt er. „Es geht lediglich um die Umverteilung von | |
Ressourcen.“ | |
Zusammen sitzen Ermer, ihre Kollegin Schmidt und die Männer nach der | |
Meditation im Kirchenraum an einer Tafel und essen Brezeln aus einem großen | |
Holzkorb. Das warme Sonnenlicht fällt vereinzelt auf ihre Gesichter, von | |
draußen hört man aus der Ferne Unterhaltungen. Mit Plastikbesteck trennen | |
sie beharrlich kleine Stücke von der harten Butter. Neben der wöchentlichen | |
Meditation veranstalten die zwei Frauen einmal im Jahr eine dreitägiges | |
Rückzugsseminar „Übung der Stille“. | |
Ein großer Mann mit Kappe und unebenem Gesicht bricht seine Brezel auf. Er | |
steckt sich ein Stück in den Mund. Auffällig kaut er darauf herum. Er | |
schluckt, dann sagt er: „Ich kann beim Einklang den Höhlenmenschen draußen | |
lassen. Die Maske ablegen.“ In den Tagen des Einklangs entwickle sich | |
spürbar eine Gemeinschaft, mit einem Grundwohlwollen füreinander, bestätigt | |
Ermer. Ein sehr stiller, kindlich wirkender junger Mann sagt, durch die | |
Meditation erkenne er seine Bedürfnisse. „Ich kann besser auf mich hören. | |
Wenn alles zu viel wird, kann ich dann sagen: Ich brauche meine Ruhe.“ | |
Doch so harmlos und friedlich, wie sie klingt, ist die Meditation nicht. | |
Die kontemplative Methode provoziert eine radikale Auseinandersetzung mit | |
der Tat. Was unter ablenkenden Bedingungen im üblichen Haftalltag leichthin | |
weggeschoben werden kann, kommt durch den unkontrollierten Fluss der | |
Gedanken wieder zum Vorschein. Abwehrmechanismen treten in den Hintergrund, | |
die weggesperrten Bilder und verdrängten Gefühle schaffen den Sprung ins | |
Bewusstsein. Ein Mann mit Ziegenbart, der sich immer wieder über die Finger | |
streicht, berichtet stellvertretend für die anderen über den Effekt der | |
Einkehrtage. „Ich habe meine Tat gesehen. Und habe mich hilflos gegenüber | |
meinem Opfer gefühlt.“ Sie holen den Schmerz zurück ins Bild. „Man muss | |
sich eingestehen, krank zu sein“, sagt der Mann mit den Unebenheiten im | |
Gesicht. „Nur ich kann mich verändern. Ich muss mich verändern“, ein | |
anderer. | |
23 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Anna Kücking | |
## TAGS | |
JVA | |
Strafvollzug | |
Theater | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Gefängnis | |
Resozialisierung | |
JVA | |
Justiz | |
Justizvollzug | |
Haftstrafe | |
Junges Theater | |
Tegel | |
Schwarzfahren | |
Knast | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Brand in Berliner Knast Tegel: Ein Inhaftierter tot | |
In einem Haftraum der Justizvollzugsanstalt Tegel brennt es in der Nacht zu | |
Freitag. Ein Mensch stirbt. Die Feuerursache ist noch unklar. | |
Neues Jugendgefängnis in Hamburg: Big Brother im Knast | |
Der Hamburger Senat hat den Neubau einer Jugendvollzugsanstalt beschlossen. | |
Opposition und Expert*innen kritisieren das Baukonzept. | |
YouTuber im Gefängnis: „Resozialisiert euch selber!“ | |
Ein Inhaftierter sendet seit über einem Monat unerlaubt Videos aus der JVA | |
Berlin-Tegel. Sein Argument: Das hilft bei seiner Rückehr nach draußen. | |
Kommentar Gefängnis-Taskforce in NRW: Besserungsanstalt oder Straflager? | |
In NRW gäbe es gerade die Gelegenheit, Haftanstalten neu zu denken. Doch | |
was hat Priorität: Effizienz oder Rückfallvermeidung? | |
Gefängnispfarrer Reichenbächer übers Zuhören: „Not lehrt Beten“ | |
In Gesprächen mit dem Gefängnispfarrer muss es nicht um Religion gehen. | |
Karl-Uwe Reichenbächer erklärt, weshalb auch das Zuhören anstrengen kann. | |
Gefängnis-Insasse über seine Haft: „Man ist quasi ein Zombi“ | |
Steven Piekert sitzt wegen versuchten Mordes in der JVA Hannover ein. Eine | |
sinnlose verbrachte Zeit, findet er. | |
Regiefestival „Radikal jung“ in München: Im Wohnzimmer der Seele | |
Depression, Game-Nerds und Rollentausch: Das 14. Festival „Radikal jung“ | |
bewies ein genaues Gespür für die großen Regisseure von morgen. | |
Nach dem Ausbruch aus Tegel: Jetzt wird genau gezählt! | |
Die Sicherheitsvorkehrungen im Knast Tegel werden verschärft, das Personal | |
wird aufgestockt. Der Justizsenator spricht davon, Lücken zu schließen. | |
Der Berliner Wochenkommentar II: Gebt das Fahrn frei! | |
Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes fordert, dass Schwarzfahren | |
nicht mehr strafbar sein soll. | |
Hinter Gittern: Vier Tage Ewigkeit | |
Die JVA Oldenburg gilt als liberal. Aber Knast ist Knast. Wie fühlt es sich | |
an, dort eingesperrt zu sein? Ein Selbstversuch. |