# taz.de -- Gefängnispfarrer Reichenbächer übers Zuhören: „Not lehrt Bete… | |
> In Gesprächen mit dem Gefängnispfarrer muss es nicht um Religion gehen. | |
> Karl-Uwe Reichenbächer erklärt, weshalb auch das Zuhören anstrengen kann. | |
Bild: Freut sich über gut besuchte Gottesdienste: Gefängnisseelsorger Kai-Uwe… | |
taz: Herr Reichenbächer, Sie haben Ihre Gemeinde in Pinneberg aufgegeben um | |
Gefängnisseelsorger zu werden. Man könnte das einen ungewöhnlichen Schritt | |
nennen. | |
Karl-Uwe Reichenbächer: Ja, es gab tatsächlich Menschen, die mich gefragt | |
haben, ob ich zwangsversetzt wurde! | |
Wurden Sie? | |
Nein, das war eine ganz freiwillige Entscheidung. Ich bin seit mittlerweile | |
25 Jahren Pastor, die meiste Zeit davon war ich Gemeindepastor. Irgendwann | |
habe ich mir gesagt, dass ich gerne noch einmal in einen ganz anderen | |
Bereich wechseln würde. | |
Warum? | |
Einerseits war mir schon immer die Arbeit am wichtigsten, bei der ich | |
direkt mit den Menschen zu tun hatte. Ich habe schon immer am liebsten | |
Gottesdienste gehalten und Seelsorgegespräche geführt, habe auch eine | |
Ausbildung zum Sterbe- und Trauerbegleiter gemacht. Zu einem | |
Gemeindepfarramt gehört aber auch viel Verwaltungsarbeit, die viele Kräfte | |
bindet. Andererseits war es mir auch ein ganz persönliches Bedürfnis, etwas | |
mehr privat sein zu können. In der Gemeinde weiß jeder wer du bist und was | |
du machst. Hier in Hamburg bin ich außerhalb meines Dienstes ganz privat. | |
Aber es hätte sicherlich auch Alternativen zum Pastor in der | |
Untersuchungshaftanstalt gegeben. | |
Als ich das Stellenangebot sah, habe ich mich selbst kurz darüber | |
erschrocken, dass ich sofort wusste, dass das die richtige Stelle für mich | |
ist. Gespräche mit anderen Gefängnisseelsorgern und der Anstaltsleiterin | |
haben mich dann darin bestärkt, dass ich das wirklich will. | |
Was hat Sie so motiviert? | |
Die Menschen hier befinden sich in einer Ausnahmesituation und ich möchte | |
ihnen dabei gerne beistehen. Das gründet sicher auch auf eigenen | |
Krisenerfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe. Auch mir ist es | |
nicht immer gut gegangen. | |
Aber Sie saßen nie im Gefängnis. | |
Nein. Es ist auch nicht so, dass ich den Gefangenen sage, ich wüsste, wie | |
sie sich fühlen. Aber ich habe zumindest eine Ahnung davon, was es heißt, | |
vor einem Scherbenhaufen zu stehen und nicht weiterzuwissen. | |
Ist Verzweiflung der Grund, warum Gefangene das Gespräch mit Ihnen suchen? | |
Manche Gefangene wollen auch nur mit mir sprechen, weil sie Tabak von mir | |
wollen. | |
Tabak? | |
Viele kommen in die Untersuchungshaft, haben nichts weiter und können auch | |
nicht einkaufen. Und manche sind dann auch noch drogenabhängig und brauchen | |
dann wenigstens etwas zu rauchen. Deshalb gebe ich manchen Gefangenen bei | |
Bedarf einmalig ein halbes Päckchen Tabak und Blättchen. | |
Fühlen Sie sich nicht ausgenutzt? | |
Natürlich bin ich kein Tabakautomat. Dafür bin ich nicht hier und das muss | |
sich natürlich im Rahmen halten. Aber der Tabak ist in gewissem Sinne auch | |
ein Türöffner, häufig ergeben sich daraus sehr persönliche und tiefe | |
Gespräche. | |
Zigaretten sind nicht der einzige Grund, warum Gefangene sie aufsuchen? | |
Nein. In Untersuchungshaft zu sein ist natürlich eine totale | |
Ausnahmesituation. Manche sind ja das erste Mal im Gefängnis und kommen | |
sich vor wie auf einem fremden Stern. Andere sind schon das vierte, fünfte | |
oder sechste Mal da. Viele sorgen sich um ihre Familien und die Freunde. | |
Andere schämen sich oder sind verzweifelt über sich selbst oder die Welt. | |
Das ist ganz unterschiedlich, aber es sind Abgründe, an denen die Menschen | |
da stehen. | |
Können Sie den Gefangenen konkrete Hilfe anbieten? | |
Manche Gefangene möchten schon gerne, dass ich ein gutes Wort für sie | |
einlege oder in gewissem Maße für sie vermittle. Da bin ich aber sehr | |
zurückhaltend. Natürlich spreche ich auch mit den Mitarbeiterinnen und | |
Mitarbeitern im Vollzug und es ist grundsätzlich wichtig, dass ich von | |
ihrer und sie von meiner Arbeit wissen. Aber ich bin hier nicht die graue | |
Eminenz und das möchte ich auch nicht sein. Es würde mich und die | |
Mitarbeitenden auch in eine komische Situation bringen. Ich bin ja hier im | |
Gefängnis kein Mitarbeiter im eigentlichen Sinne. | |
Sondern? | |
Ich habe hier eine ganz eigentümliche Rolle, ich bin sozusagen beigeordnet. | |
Das bedeutet, bei allem was die Sicherheit betrifft, kann ich hier nicht | |
aus der Reihe tanzen. Andererseits darf ich mich auch nicht vollkommen dem | |
System anpassen. Ich unterliege in erster Linie der seelsorgerischen | |
Schweigepflicht. Und hier besteht auch die große Chance für die Begegnung | |
zwischen einem Gefangenen und mir. Das heißt, wenn mir jemand hier drin | |
etwas anvertraut, dann bleibt das auch bei mir. Da bin ich Seelsorger wie | |
alle anderen Seelsorger unserer Kirche draußen auch. | |
Suchen die Angestellten des Gefängnisses denn auch das Gespräch mit Ihnen? | |
Es kommen immer mal wieder Mitarbeitende zu mir, mehr oder weniger | |
offensichtlich. Einige gucken erst, ob gerade niemand anders guckt, und | |
sprechen mich dann an. In so einem System wie dem Gefängnis geht es ja | |
schon darum, irgendwie Stärke zu zeigen und sich nicht unterkriegen zu | |
lassen. Da kann von den Kollegen schon mal so etwas kommen wie: „Du gehst | |
zum Pastor? Hast du es nötig?“ Das ist aber draußen nicht anders, das habe | |
ich als Gemeindepastor auch schon erlebt. | |
Und Ihre Arbeit besteht vor allem aus Zuhören? | |
Zuhören ist gegenüber den Gefangenen erst einmal die Basis, einfach da | |
sein. Das heißt ja auch, diese Situation mit dem Menschen auszuhalten. | |
Aushalten, dass der Gegenüber sich selbst nicht erträgt, vielleicht gar | |
kein Wort herausbringt oder die ganze Zeit weint oder schreit oder was auch | |
immer. Dann fange ich vielleicht irgendwann an, nachzufragen, was gerade am | |
schwersten ist oder was ihn gerade am meisten beschäftigt. Dadurch, dass | |
mir der Mensch dann etwas erzählt, wird er sich selbst seiner Situation | |
klarer. Das hilft, das Chaos aus Angst und Verzweiflung zu entwirren. Das | |
ist der Anfang, der eventuell eine Fortsetzung finden kann. | |
Welche Rolle spielt der Glaube dabei? | |
Die Fragen nach Strafe, Schuld, Vergebung, Scheitern und Neuanfang sind | |
zentrale Fragen des christlichen Glaubens. Für mich schwingt der Glaube in | |
den Gesprächen immer wie eine Grundmelodie mit. Wenn es ums Menschliche | |
geht, geht es für mich auch um Gott. | |
Und für die Gefangenen? | |
Das ist unterschiedlich. Die Gespräche können ganz explizit religiös sein | |
oder auch eben nicht. Tendenziell vergeht kaum ein Tag hier im Gefängnis, | |
an dem ich nicht mit jemandem bete. Mein Eindruck ist, dass sich die | |
Menschen im Gefängnis Gott oft näher fühlen als an anderen Orten. | |
Vielleicht kennen Sie den Ausspruch „Not lehrt Beten“? In schlimmen | |
Situationen kommen die Menschen wie von selbst dazu nach dem Sinn des | |
Lebens und damit nach Gott zu fragen. Sonntags sitzen ungefähr 40 bis 60 | |
Gefangene in meinen Gottesdiensten, alles Männer zwischen 18 und 45 Jahren. | |
In welcher Kirchengemeinde draußen ist das schon so? | |
Ist das vielleicht auch einer gewissen Langeweile geschuldet? | |
Natürlich ist die Situation hier drin eine besondere. Aber die Männer | |
müssen ja nicht in den Gottesdienst gehen. Klar kommen einige wegen des | |
Kaffeetrinkens nachher, oder weil sie andere Gefangene sehen wollen. Aber | |
die meisten kommen, weil sie wirklich gerne am Gottesdienst teilnehmen | |
wollen. | |
Woran machen Sie das fest? | |
Ich merke, wie aufmerksam die Gefangenen sind und dass sie zuhören, was ich | |
ihnen zu sagen habe. Wenn ich einige Tage oder Wochen später mit Gefangenen | |
spreche, kommt es schon mal vor, dass sie mich auf eine Predigt oder einem | |
Gedanken daraus ansprechen. Daran wird deutlich, dass sie mir zugehört | |
haben. Dann denke ich, dass es sich wirklich lohnt. | |
Sie sind der evangelische Seelsorger, sie haben einen katholischen | |
Kollegen. Gibt es ein entsprechendes Angebot auch für muslimische | |
Gefangene? | |
Es gibt einen Imam, der einmal in der Woche zu einem Religionsgespräch | |
kommt. Er führt Religionsgespräche mit denen, die das wollen. | |
Aber haben nicht auch muslimische Gefangene einen Seelsorgebedarf? | |
Ja, es gibt eine ganze Reihe Muslime, die mit mir ein Gespräch führen | |
wollen und etliche haben auch Interesse daran, am Gottesdienst | |
teilzunehmen. Da sind die Grenzen der Religionen eher fließend. Die Frage | |
nach explizit muslimischer Seelsorge wird aktuell noch diskutiert. | |
Durch die Gespräche bekommen Sie Einblick in persönliche Schicksale und | |
Abgründe. Wie belastend ist das für Sie? | |
Es fällt schon manchmal schwer abzuschalten. Es gibt immer wieder | |
Situationen, in denen ich sehr betroffen bin und die Grenzen meiner Arbeit | |
spüre. Aber ich versuche nach Möglichkeit, nicht alles auf meinen Schultern | |
zu lasten. | |
Wie machen Sie das? | |
Wir Pastorinnen und Pastoren haben die Möglichkeit, Supervision | |
wahrzunehmen und bestimmte Dinge dort in anonymisierten Fallbesprechungen | |
zu verarbeiten. Ich versuche auch ein möglichst ausgeglichenes Privatleben | |
zu führen und Dinge zu tun, die mich wirklich entspannen. | |
23 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Marthe Ruddat | |
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