| # taz.de -- Kirchentag in Berlin: „Im Grunde trifft es nur die Armen“ | |
| > Bei einer Veranstaltung in der Versöhnungskapelle kritisieren Experten | |
| > das deutsche Gefängnissystem und suchen nach Alternativen. | |
| Bild: Resozialisierung findet praktisch nicht statt: Blick auf die Justizvollzu… | |
| Die rund 200 Stühle der Kapelle der Versöhnung an der Gedenkstätte Berliner | |
| Mauer Platz sind am Donnerstagabend voll besetzt. Im hinteren Teil des | |
| Raumes tummeln sich die Zuspätkommer. Die Besucher des Kirchentags | |
| interessieren sich also für die Zukunft von Deutschlands Gefängnissystem. | |
| Thomas Dietrich Lehmann, Pfarrer der evangelischen | |
| Versöhnungskirchengemeinde und Gefängnisseelsorger in der | |
| Strafvollzugsanstalt Berlin Moabit, ist Gastgeber der Veranstaltung. Er | |
| macht klar, dass es sich um eine politische Veranstaltung handelt. Zur | |
| Begründung holt er etwas weiter aus: „Die im Jahre 1894 gegründete | |
| Versöhnungskirchengemeinde, hatte schon damals eine politische Funktion. | |
| Sie sollte eine Brücke sein, hinein in das Elendsviertel aus Mietskasernen. | |
| Im Krieg wurde die ursprüngliche Kirche zerstört, durch die Berliner Mauer | |
| die Gemeinde entzweit. Deshalb geht es heute auch um Mauern.“ Die | |
| Gefängnisseelsorge ist ihm eine Herzensangelegenheit, er beendet seine | |
| Einleitung mit einem Aufruf zum Gedenken an die 60.000 in Deutschland | |
| Inhaftierten. | |
| Auch Moderatorin Annette Linkhorst, Strafverteidigerin und Fachanwältin für | |
| Strafrecht, geht das Thema unter die Haut. „Die Veranstaltung ist so | |
| wichtig, weil es hier um Menschen geht, die nicht nur symbolisch, sondern | |
| auch wortwörtlich weg gesperrt werden.“ Sie bezeichnet das Gefängnis als | |
| Hochschule für Straffällige und ärgert sich darüber, dass Schwarzfahrer und | |
| Kinderschänder im gleichen System landen. | |
| Tobias Müller Monning, Gefängnisseelsorger in Butzbach, beschreibt das | |
| Gefängnis als Parallelsystem mit eigenen Regeln, eine Welt, die mit der | |
| Realität draussen nichts zu tun hat. In der Regel habe ein Grossteil der | |
| Inhaftierten einen Suchthintergrund. Diese müssten ihre Sucht irgendwie | |
| befriedigen – auch im Gefängnis. Viele der Inhaftierten seien zudem | |
| unmittelbar von Armut betroffen. „Im Grunde trifft das Strafvollzugssystem | |
| nur die Armen“, sagt er. | |
| ## 60 Prozent werden rückfällig | |
| Für den Buchautoren und ehemaligen Leiter der JVA Zeithein in Sachsen, | |
| Thomas Galli, liegt der Hund in der nicht stattfindenden Resozialisierung | |
| begraben. „Das eigentliche Problem ist doch, dass ein Gefängnisaufenthalt | |
| den Verurteilten noch weiter an den Rand der Gesellschaft drängt“, sagt er. | |
| Und fügt hinzu: „Der Schuldausgleich wird nicht gewährleistet, denn für den | |
| Großteil der Gesellschaft bleibt der Täter auch nach Vollendung seiner | |
| Haftzeit ein Verbrecher.“ Deswegen sind Gefängnisse für ihn keine Lösung. | |
| Ineke Pruin, Assistenzärztin für Strafrecht an der Universität Bern, | |
| schließt sich der Kritik an. Sie sagt: „60 Prozent der Verurteilten sind | |
| rückfällig und die gesamte Straftäterbehandlung wirkt im Durchschnitt zu 10 | |
| Prozent.“ | |
| Die Trainerin für gewaltfreie Kommunikation Annette Zupke stellt eine | |
| Alternative vor. Sie arbeitet mit Tätern und Opfern von Gewaltverbrechen | |
| und wendet dabei die Methode der „Restorative Justice“ an. Hierbei handelt | |
| es um einen direkten Täter-Opfer-Ausgleich. Die Idee ist, einen | |
| Perspektivwechsel zu ermöglichen, also ganz praktisch dem Mitgefühl des | |
| Täters auf die Sprünge zu helfen und dabei das Opfer zu stärken. | |
| Restorative Justice ist bei Sachbeschädigung, Körperverletzung, Mord oder | |
| sogar Vergewaltigung ein probates Mittel, aber es Bedarf auch viel Mut von | |
| Seiten des Opfers und ein Umdenken im allgemeinen Justizsystem um das | |
| Konzept flächendeckend anzuwenden. | |
| Müller Monning sieht die Haupthürde in der Abhängigkeit des Justizsystems | |
| vom status quo. Die Gefängnisse kosteten den Staat jährlich 14 Milliarden | |
| Euro, sagt er. Davon würden die Gehälter für Richter, Staatsanwälte, Wärter | |
| und das weitere Personal gezahlt, es liege natürlich in ihrem Interesse | |
| diese Arbeitsplätze zu erhalten. Alternative Konzepte wären | |
| kostengünstiger. „Das setzt riesige Summen frei“, so Müller Monning – u… | |
| die würden alle Diskutanten am liebsten im Bildungssystem sehen. Denn in | |
| einer Sache sind sie sich einig: die beste Gewaltprävention ist eine | |
| nachhaltige frühkindliche Bildung. | |
| 26 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Korede Amojo | |
| ## TAGS | |
| Resozialisierung | |
| Kirchentag 2023 | |
| Gefängnis | |
| Justizvollzug | |
| Berlin | |
| Schwerpunkt Brexit | |
| Kirchentag 2023 | |
| Willkommenskultur | |
| Religion | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gefängnispfarrer Reichenbächer übers Zuhören: „Not lehrt Beten“ | |
| In Gesprächen mit dem Gefängnispfarrer muss es nicht um Religion gehen. | |
| Karl-Uwe Reichenbächer erklärt, weshalb auch das Zuhören anstrengen kann. | |
| Kolumne Berliner Blick: „Ey, wir wurden gerade gesegnet!“ | |
| „Hass ist krass, Liebe ist krasser“ und Versionen des Schaltragens: Wie | |
| genau verändert der Kirchentag 2017 Berlin? | |
| Der Kirchentag und das politische Europa: „Europa braucht eine Seele“ | |
| Finanzkrise, Brexit, Rechtsruck: Europa steht gerade ziemlich schlecht da. | |
| Kann der Glaube da noch etwas retten? | |
| Kirchentag 2017 in Berlin: Schau mir in die Augen | |
| Man kann den Kirchentag nervig finden oder von ihm lernen: sich | |
| wahrzunehmen, zum Beispiel. Ein Aufruf zur Nächstenliebe. | |
| Kirchentag in Berlin: „Alle sind für Menschenrechte“ | |
| In Messehalle 7 dreht sich alles um Willkommenskultur sowie ums | |
| Kennenlernen von Deutschen und Geflüchteten. Das ist nicht immer einfach. | |
| Berlin im Obama-Fieber: „Yes we can“ trifft „Wir schaffen das“ | |
| 70.000 Menschen wollen den ehemaligen US-Präsidenten am Brandenburger Tor | |
| reden hören. Auch Kanzlerin Merkel ist dabei. |