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# taz.de -- Kirchentag 2017 in Berlin: Schau mir in die Augen
> Man kann den Kirchentag nervig finden oder von ihm lernen: sich
> wahrzunehmen, zum Beispiel. Ein Aufruf zur Nächstenliebe.
Bild: Schon wieder abgelenkt
Der Evangelische Kirchentag in Berlin, das bleibt weder unkommentiert noch
unbemerkt. Was machen die ganzen Christen in der Hauptstadt des Atheismus,
fragen sich viele Berliner. Und auf dem Kirchentag kann man sich fragen, um
welche Art von Begegnungen es hier eigentlich gehen soll. Um die Begegnung
mit Gott? Um die mit ähnlich Gesinnten? Oder: um die mit den Ungläubigen?
In der Bibel flieht die Sklavin Hagar, deren Name mit dem hebräischen
Begriff für „die Fremde“ assoziiert wird, in die Wüste, nachdem sie von
ihrer Herrin gedemütigt wurde. In der Wüste wird sie von Gott gesehen und
erkannt; Hagar sagt den Satz, der in diesen Tagen überall in Berlin zu
lesen ist: „Du siehst mich.“
Im Programm des Kirchentags steht, es brauche Mut, mit dieser Losung in
eine Stadt zu gehen, in der man sich auf der Straße nicht so gern ansieht.
„Du siehst mich“: Das Motto stellt die – ja von vielen genossene –
Anonymität der Großstadt in Frage. Gleiten wir aneinander vorbei, ohne uns
wahrzunehmen? Blenden wir einfach aus, was uns überfordern oder belasten
könnte, die vielen Mitreisenden in der U-Bahn, Obdachlose in den Parks?
Und es ist doch schon so, dass wir in Bahnen, Bussen und Zügen sitzen,
vertieft in unseren Realitätsblasen, die zunehmend auf unseren genialen
Geräten existieren. Dass es neuerdings nicht nur das „Text-Neck-Syndrom“
gibt – steife Nacken vom Tippen –, sondern auch eine gewachsene
Bereitschaft, im letzten Moment abzusagen, Menschen immer noch ein bisschen
länger auf Abstand zu halten. Sind das Folgen der Digitalisierung oder des
Neoliberalismus? Wir blicken stets auf uns selbst. Und ersehnen trotzdem
den Blick anderer, wünschen uns Anerkennung – im Freundeskreis, der Familie
und im Beruf.
Der Soziologe Heinz Bude, der am Freitag auf dem Kirchentag einen Vortrag
zu „Spaltung oder Solidarität? Antworten auf die Angst“ hält, schreibt in
seinem Buch „Die Gesellschaft der Angst“ von der Angst des sozialen
Abstiegs; von der Angst, alles zu verlieren. Und davon, ob unser
Selbstoptimierungsdrang einer nötigen Solidarität im Weg steht. Letztlich
handeln ja viele aktuelle Debatten von ebenjenen Menschen, die sich nicht
„gesehen“ fühlen: Wutbürger; Einzelgänger, die zu Extremisten werden –…
schlichtweg alle, die vor ihren Rechnern sitzen, eine Distanz gegenüber
jenen empfinden, die ihnen in sozialen Medien nah zu stehen scheinen. Dabei
wollen doch eigentlich alle nur so wahrgenommen werden, wie sie sind.
## Es geht um Anerkennung
Seit Luther geht man im Evangelismus davon aus, dass man von Gott geliebt
und gesehen wird, wenn man nur an Gott glaubt. Demnach wäre das
atheistische oder von östlicher Spiritualität inspirierte Pendant dazu
doch, dass einzig und allein das Sein reicht, um die ersehnte Anerkennung
zu bekommen: Du bist schon okay so, wie du bist. Du musst dich nicht über
deinen Beruf, dein Gehalt, über deinen Körper oder deinen Familienstand
definieren, um zu genügen.
Die Intention des diesjährigen Kirchentags ist es, diese Sehnsucht
herauszustellen. Besucher sind eingeladen, „sich von Angesicht zu Angesicht
zu begegnen. Es soll „viele Emotionen und echte Begegnungen geben“. Auf
sogenannten „Inseln der Begegnungen“ gibt es Fragebögen als Eisbrecher, die
den Smalltalk verhindern – und stattdessen über ein Leben nach dem Tod,
über Träume und Frustrationsgründe zu reden.
## Kopf heben, Nacken entspannen
Man könnte sich fragen, was eigentlich mit uns los ist, ob wir unter
Sozialangst leiden. Seit wann klappt es mit der Verbindlichkeit nicht mehr?
Schnell und oberflächlich kommunizieren können wir. Aber Leuten echt
begegnen, Unbekannten länger in die Augen schauen?
Auf dem Kirchentag scheint das möglich zu sein. Und das ist gut so. Die
Besucher, die schon in der U-Bahn zu singen beginnen und ständig am Lächeln
sind, kann man zwar nervig finden. Man kann aber auch etwas von ihnen
lernen: die Scheu vor Begegnungen abzulegen, etwa. Also: Kopf heben und den
Nacken entspannen. Seht euch!
26 May 2017
## AUTOREN
Edda Luisa Kruse Rosset
## TAGS
Kirchentag 2023
Anerkennung
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Berlin
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