# taz.de -- Radikalisierung im Gefängnis: „Prävention muss verstärkt werde… | |
> Die Attentäter von Paris hatten sich in der Haft kennengelernt. | |
> Sozialpädagoge Thomas Mücke über Ideologien, Gewaltkreisläufe und | |
> Vertrauensbildung. | |
Bild: Besonders Jugendliche radikalisieren sich häufig in Haft. | |
taz: Herr Mücke, die Pariser Attentäter haben sich offenbar im Gefängnis | |
kennengelernt und dort weiter radikalisiert. Ist das eine typische | |
Entwicklung? | |
Thomas Mücke: In bestimmter Hinsicht schon. Wir wissen, dass zum Beispiel | |
viele der Syrien-Ausreisenden aus dem kriminellen Milieu kommen, also junge | |
Menschen sind, die in ihrem Leben bisher gescheitert sind, die keine gute | |
soziale Perspektive haben, die Aggressionen und Wut auf die Gesellschaft | |
haben. Nicht wenige haben schon einen Gewaltkreislauf hinter sich. Die sind | |
besonders anfällig für einfache Ideologien, die auch noch ein Ventil für | |
ihren Frust und ihre Wut anbieten. Das ist eine Gefahr im Strafvollzug. | |
Sie teilen also die Einschätzung, dass sich vor allem die Gescheiterten | |
radikalisieren? | |
Es gibt Gemeinsamkeiten, die man benennen kann. Dazu gehört das Scheitern. | |
Dazu gehört auch, dass die meisten so gut wie keine religiöse Bildung | |
haben, gar nicht wissen, was der Islam ist. Feststellen kann man auch, dass | |
es häufig Bruchlinien in der Biografie gibt; viele haben massive Konflikte | |
mit dem Vater, oder sie sind vaterlos. Da werden Autoritäten attraktiv, | |
Vaterfiguren, die wissen, wo es langgeht, eine Gemeinschaft, zu der man | |
emotional und sozial gehört. Dann wird mit einem sehr einfachen Weltbild | |
gearbeitet. Man muss sich nicht damit auseinandersetzen, was im eigenen | |
Leben geschehen ist, sondern die Antwort ist klar: Es liegt an der | |
Diskriminierung der Muslime. | |
Können Sie ein Beispiel nennen? | |
Ich hatte kürzlich einen 15-Jährigen im Vollzug, der mir offenbart hat, | |
dass er nach Syrien ausreisen wollte. Der hatte mit seinem Leben schon | |
abgeschlossen. Er war Kurde und wusste nicht, dass der IS gegen Kurden | |
kämpft. Irgendwann wurde ihm klar: Dann kann ich mich denen ja gar nicht | |
anschließen. | |
Sie arbeiten seit mehr als zehn Jahren mit Rechtsextremen im Gefängnis, | |
inzwischen auch mit Islamisten. Was tun Sie dagegen, dass sich diese Leute | |
im Gefängnis weiter radikalisieren? | |
Wir arbeiten mit jungen Menschen im Strafvollzug. Wir haben im | |
Trainingsprogramm drei Bausteine: eine Gruppenphase, in der die einzelnen | |
Biografien, diese ganzen Fragen diskutiert werden. Eine individuelle | |
Betreuung bis zur Haftentlassung. Und wir betreuen die jungen Menschen auch | |
nach der Haftentlassung, damit sie nicht wieder in die radikale Szene | |
abrutschen oder kriminell werden. Das dauert bis zu zwölf Monate. | |
Was passiert in diesen Trainings konkret? | |
Wir schauen auf die biografischen Bruchlinien, die jungen Menschen sollen | |
verstehen, dass nicht alles mit Diskriminierung oder Ausgrenzung zu | |
erklären ist. Dann arbeiten wir an dem Gewaltdruck, den sie haben. Und wir | |
suchen die Diskussion über die Ideologie. In der neosalafistischen Szene | |
ist es wichtig, dass ich Kollegen mit muslimischer Identität habe, die | |
haben einen anderen Zugang. Die jungen Menschen sollen andere Sichtweisen | |
des Islam kennenlernen, erfahren, dass man ihn unterschiedlich deuten und | |
leben kann. Das Ziel ist, dass sie verstehen, dass sie sich selbst einen | |
Kopf machen müssen. In der neosalafistischen Szene wird ja kein Diskurs | |
geführt, da wird die Welt in richtig und falsch aufgeteilt, in Gläubige und | |
Ungläubige. Ungläubige haben keine Existenzrecht. Das ist eine relativ | |
faschistische Ideologie. | |
Wie kommen Sie an die Menschen ran? | |
Diese Szene ist hochgradig misstrauisch. Deshalb ist es für die internen | |
Behandlungsprogramme, die die Vollzugsanstalten anbieten, nicht leicht. Für | |
uns als Nichtregierungsorganisation, die von außen kommt und muslimische | |
Mitarbeiter hat, ist es etwas leichter. Ich habe ja schon in den achtziger | |
Jahren Straßensozialarbeit mit Skinheads gemacht, ich weiß, wie man mit | |
misstrauischen Jugendlichen ins Gespräch kommt. Aber ich würde in ein | |
solches Gespräch nicht allein gehen. Meine muslimischen Kollegen sind die | |
Türöffner. Wir hatten es bisher noch nicht, dass jemand unsere | |
Gesprächsangebote dauerhaft ablehnt. | |
Derzeit laufen sehr viele Ermittlungsverfahren gegen gewaltbereite | |
Islamisten, eine ganze Menge von ihnen wird im Gefängnis landen. Wie sind | |
die darauf vorbereitet? | |
Die Präventionsangebote müssen verstärkt werden. Sonst geht ein Extremist | |
ins Gefängnis, und mehrere kommen raus. Das kennen wir vom | |
Rechtsextremismus. Unser Programm ist zum Jahresende ausgelaufen. Wir | |
bekommen zwar eine Strukturfinanzierung vom Bundesfamilienministerium, aber | |
wir haben noch kein Geld für die pädagogische Arbeit. Wir arbeiten jetzt | |
noch in drei Bundesländern mit Landesmitteln, aber eine Bundesfinanzierung | |
gibt es nicht. Da muss unbedingt etwas geschehen. Aber ich habe auch den | |
Eindruck, dass das passiert. | |
Aus Frankreich hört man jetzt von salafistischen Netzwerken in den | |
Gefängnissen. Gibt es solche Strukturen auch in Deutschland? | |
Es gibt die Strukturen von außerhalb, man sieht ja immer dieselben Personen | |
bei den Gerichtsverhandlungen. In der Szene wird klar gesagt: Wer | |
inhaftiert wird, für den sind wir da. In Haft geht es eher um informelle | |
Netzwerke: Wenn jemand in den Knast kommt und an seine Ideologie glaubt, | |
dann gehört es für ihn dazu, zu rekrutieren. | |
Haben Sie das schon erlebt? | |
Ja, das bekommt man mit. Ein Problem ist auch, dass wir keine | |
flächendeckende muslimische Gefängnisseelsorge haben, es gibt keine | |
religiöse Begleitung. Rekrutierungsversuche wird es immer geben. Aber man | |
muss junge Insassen stark machen, damit sie sich dagegen wehren können. | |
In Frankreich wird deshalb diskutiert, alle Islamisten zusammen in einem | |
Isoliertrakt unterzubringen – einen entsprechenden Versuch gibt es schon. | |
Was halten Sie davon? | |
Davor kann ich nur warnen. Dann radikalisieren sie sich gegenseitig. Das | |
gilt natürlich ganz besonders im Jugendvollzug. | |
7 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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