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# taz.de -- Jugendvollzug in Niedersachsen: Im Endeffekt Einzelhaft
> Ein 16-Jähriger saß neun Tage lang jeweils 23 Stunden isoliert in einer
> Zelle in der JVA Vechta ein. Das sei unzulässige Einzelhaft, sagt sein
> Anwalt.
Bild: Ein Gefangenentransporter verlässt den Knast in Vechta
Hamburg taz | In Niedersachsen gibt es nur eine Untersuchungshaftanstalt
für Minderjährige, und zwar in Hameln. Das ist das Problem beim
Jugendvollzug des Flächenlandes, sagt der Bremer Rechtsanwalt Jan Sürig:
Müssen die jungen Menschen zu Gericht, befindet sich dieses oft in einer
weiter entfernten Stadt. Dafür gibt es dann einen Sammeltransport, nach
Fahrplan – und das führt wiederum dazu, dass ein junger Häftling schon Tage
vorher in eine U-Haft für Erwachsene gebracht wird. Das wiederum kollidiert
mit den Kinderrechten.
So widerfuhr es einem 16-Jährigen, den Sürig vertritt. Der Junge ist
Halbwaise, war zeitweise obdachlos und auf die schiefe Bahn gekommen,
weshalb er am 10. August in U-Haft in Hameln kam. Sein Gericht sitzt aber
in Cloppenburg, gut 200 Kilometer entfernt.
Schon die Fahrt zum Haftprüfungstermin Ende August dauerte vier Tage: Der
Teenager wurde erst nach Hannover gefahren, wo er übernachtete, um dann
nach Vechta gebracht zu werden, in die am dichtesten an Cloppenburg
gelegene Justizvollzugsanstalt (JVA). In Vechta war der Junge laut Sürig
mit erwachsenen Häftlingen zusammen. „Das ist unzulässig“, sagt Sürig. L…
der [1][UN-Kinderrechtskonvention] sei jedes Kind, dem die Freiheit
entzogen ist, von Erwachsenen zu trennen. Deshalb habe er dies bei Gericht
gerügt.
Als sein Mandant knapp zwei Monate später wieder nach Vechta musste –
diesmal zur Hauptverhandlung –, wurde er dort strikt von den anderen
Gefangenen isoliert. Doch die Verhandlung zieht sich hin: Bei einem Besuch
in der JVA am 2. November erzählt der Junge seinem Anwalt, dass er seit
neun Tagen rund um die Uhr in der Zelle saß, mit nur einer Freistunde am
Tag, die er allein mit Beamten verbrachte.
„Es ging ihm schlecht“, sagt Sürig. Er habe Angst um seinen Mandanten
gehabt. Er sei hier in Einzelhaft gehalten worden, obwohl von dem Jungen
keine erhöhte Gefahr ausging und es keinen Anlass für eine
Disziplinarmaßnahme gab.
Sürig verweist auf die Definition der „[2][Mandela Rules]“ der Vereinten
Nationen. Demnach gilt das Einsperren eines Gefangenen für 22 oder mehr
Stunden pro Tag ohne sinnvollen menschlichen Kontakt als „Einzelhaft“. Und
Einzelhaft zählt nach den [3][„United Nation Rules“] zum Schutz von
Jugendlichen zu den streng untersagten Maßnahmen, weil sie die körperliche
und geistige Gesundheit der Jugendlichen gefährden.
Der Bremer Anwalt beschwerte sich erneut. Sein Mandant sei seit seiner
Inhaftierung zudem nur weggesperrt worden, obwohl bekannt sei, dass er eine
Therapie brauche. Mit Schreiben vom 4. November erfuhr er von der Anstalt
Vechta, dass der 16-Jährige nun auf eigenen Wunsch bis zu seiner
Hauptverhandlung Mitte November dort bleibt. Er nehme seit einem Tag am
„Tagesablauf der U-Haft für Erwachsene“ teil, dazu gehörten „Freistunde…
Teilnahme am üblichen Aufschluss, ferner Möglichkeiten zur Seelsorge“ sowie
ein Schulkurs.
Die Anstalt wies zudem zurück, dass A. zuvor in „Einzelhaft“ war. Die wäre
nach [4][niedersächsischem Landesrecht] ohnehin nicht zulässig. Die
„weitgehende Isolierung“ habe sich aus der Einhaltung der
„Trennungsgrundsätze“ ergeben. Allerdings kümmerten sich Vollzugsbeamte um
solche „Durchgangsgefangenen“, damit diese nicht „vereinsamen“.
Auch das niedersächsische Justizministerium erklärt, man habe hier „keine
Einzelhaft angeordnet“, sondern zum Schutz des Jugendlichen den Grundsatz
der Trennung von Erwachsenen umgesetzt. Sofern kein anderer Minderjähriger
inhaftiert ist, könne dann keine gemeinsame Unterbringung erfolgen,
erläutert Sprecher [5][Hans-Christian Rümke]. Die JVA Vechta habe
mitgeteilt, dass sich die Bediensteten um solche Gefangenen „besonders
kümmern und zum Beispiel täglich im Gespräch mit ihnen sind“.
Jan Sürig überzeugt das nicht. „Einzelhaft ist ein No-Go für
Minderjährige“: Habe Niedersachsen keine Möglichkeit, den Jungen rechtmäß…
unterzubringen, dann „müssen sie ihn rauslassen“. So aber sei er durch
Einzelhaft unter Druck gesetzt worden, der Unterbringung mit Erwachsenen
zuzustimmen.
„Das Trennungsgebot zwischen Jugendlichen und Erwachsenen im Gefängnis
besteht aus gutem Grund“, sagt Martin Dolzer, früherer Justizpolitiker der
Hamburger Linksfraktion. Und wenn in einer Übergangssituation für den
Jungen Vollzugsbeamte der einzige Kontakt sind, bedeute das „Einzelhaft“
und sei ebenso nicht hinnehmbar. Dolzer: „Es müssen strukturelle
Bedingungen geschaffen werden, dass es gar nicht erst dazu kommt.“
Dass dieses Problem jetzt zutage tritt, könnte daran liegen, dass
Niedersachsen zentralisierte und Ende 2019 die U-Haft-Abteilung für
Jugendliche in der JVA Vechta auflöste. Seither ging übrigens die Zahl der
minderjährigen U-Häftlinge im Land spürbar zurück. Grundsätzlich erlaubt
das Jugendgerichtsgesetz U-Haft bei Minderjährigen nur, wenn ihr Zweck
nicht durch eine andere Maßnahme, etwa in der Jugendhilfe, erreicht werden
kann. Im Fall des Jungen lehnte die Richterin dies ab.
Man befinde sich beim Thema Knast immer in einem Dilemma, sagt der
[6][Jugendvollzugsexperte Bernd Maelicke]. „Dezentrale kleine Anstalten
können bei Freizeit, Sport und Bildung vergleichsweise wenig bieten.“ Doch
zentralisiere man, gebe es in Flächenstaaten das Transportproblem. Und
„vollzugspolitisch“ sei Einzelunterbringung auch ein Fortschritt gewesen.
„Es ist positiv, dass Jugendliche heute selten in U-Haft sind“, sagt der
Kriminologe Frieder Dünkel. Die Kehrseite der niedrigen Zahlen sei, dass
man mit einem der Prinzipien „Vermeidung von Einzelunterbringung“ und
„Trennung von Erwachsenen“ brechen müsse.
In der Jugendanstalt Hameln würden Minderjährige zusammen mit den
Jungerwachsenen, die maximal 24 Jahre alt sind, untergebracht. „Das Konzept
hat mich nach anfänglicher Skepsis überzeugt“, sagt Dünkel. Finde die
U-Haft nahe der späteren Jugendhaft statt, könnten die Betroffenen schon an
Maßnahmen teilnehmen. Dennoch sei die Frage des Transports zu Gericht ein
Thema und bisher wenig erforscht.
Sürig bleibt bei seiner Kritik. Es müsse eine Lösung für die Transporte
her, sagt er. „Und sei es, für den Tag bei Gericht einen Einzeltransport zu
organisieren.“ Das koste zwar Geld, „aber das muss einfach sein. Wenn
Deutschland die UN-Kinderrechte unterschrieben hat, muss es die auch
zwingend umsetzen.“
Justiz-Sprecher Rümke sagt, man nehme den Fall zum Anlass, „die Bedingungen
während des Sammeltransports zu überprüfen“.
Er kenne den Einzelfall nicht, sagt der Grünen-Justizpolitiker Volker
Bajus. „Aber Richter und Behörden haben dafür Sorge zu tragen, dass einem
Jugendlichen in U-Haft der größtmögliche Schutz zukommt.“ Denn die
Kinderrechtskonvention gelte auch dort. „Und bis 18 ist jeder ein Kind.“
14 Nov 2022
## LINKS
[1] https://www.unicef.de/informieren/ueber-uns/fuer-kinderrechte/un-kinderrech…
[2] https://undocs.org/A/RES/70/175
[3] https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/united-nations-…
[4] https://www.voris.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsvorisprod.psml?pid…
[5] https://www.mj.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presse_kontakt/presse-…
[6] /Kriminologe-Maelicke-ueber-Reformstau/!5039637
## AUTOREN
Kaija Kutter
## TAGS
Jugend
Haft
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Kinderrechte
Niedersachsen
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Jugend
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