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# taz.de -- Hinter Gittern: Vier Tage Ewigkeit
> Die JVA Oldenburg gilt als liberal. Aber Knast ist Knast. Wie fühlt es
> sich an, dort eingesperrt zu sein? Ein Selbstversuch.
Bild: Am Abend beginnt das stundenlange Gemurmel der Gefangenen - durch die Fen…
OLDENBURG taz | Noch einmal freie Luft atmen. Den Weg vom Bahnhof zur
Haftanstalt laufe ich zu Fuß. Als ich den Koloss aus Beton und Backstein
vor mir sehe, frage ich mich: Wie würdest du dich fühlen, wenn du nicht
vier Tage, sondern vier Jahre hier zu verbüßen hättest?
Das hohe elektronische Summen des Türöffners gibt den Weg frei in die
Gefangenschaft. „Haben Sie eine Ladung zum Strafantritt? Personalausweis?“
Der Ton hinter Gittern ist nicht unhöflich, aber keinesfalls herzlich.
Mit der Gefängnisleitung habe ich ausgemacht, dass wir gegenüber Gefangenen
und Bediensteten offen sind: Ich bin als Reporter hier, werde aber
behandelt wie ein Häftling. Ich spüre das bei der Sicherheitskontrolle:
„Ausziehen! Auch die Unterhose!“ Finger in Gummihandschuhen fummeln in jede
Hautfalte. Der Erniedrigung versuche ich mit Humor zu begegnen: „Die Würde
des Menschen ist unantastbar – aber nicht sein Hintern?!“ Der Beamte
lächelt gequält: „Sicherheit muss sein.“
## Nummer 1.115
Ich werde mit Fragen überhäuft: „Weiß Ihre Familie Bescheid? Zu Hause alles
geregelt? Nehmen Sie Drogen?“ Später erfahre ich, dass die Fragen vor allem
dazu dienen, meine Psyche abzuchecken. Neue Häftlinge sind besonders
suizidgefährdet. Die Hälfte aller Selbsttötungen im Gefängnis geschieht in
den ersten drei Monaten.
Ich bin Nummer 1115, bleibe aber in den Gesprächen „Herr Schmitt“. Dutzende
Formulare werden ausgefüllt. Bürokratie beherrscht den Knast. „So lernen
die Gefangenen Ordnung“, sagt ein Beamter. Meine Habe trennt sich in Dinge,
die ich in den Haftraum mitnehmen darf (private Klamotten) und Dinge, die
bis zur Entlassung im Tresor verschwinden: Handy, Geld und Dokumente. Ich
erhalte Knastausrüstung: Bettzeug, Plastikgeschirr, Besteck aus
ungehärtetem Stahl, zigfach gewaschene, ausgeleierte Feinrippunterwäsche.
Mein Leben passt in eine blaue Plastikkiste. Mit ihr werde ich auf Station
gebracht – Block A4. Mein Revier, das ich mit über 20 Häftlingen teile.
Auf neun Quadratmetern richte ich mich ein: Bett beziehen, Schrank
bestücken, eine kleine Kommode, Tisch, Stuhl und die Nasszelle mit
Waschbecken und Toilette. Es klopft an meine offene Zellentür. Drei
Häftlinge kommen, um mich zu beschnuppern. Patrick führt das Wort. Er ist
groß, blaue Augen, schwarze Haare, durchtrainiert und für einen Gewalttäter
(mehrfach schwere Körperverletzung) überraschend freundlich. Er schnappt
sich meinen Haftschein, will wissen, warum ich hier bin und ob ich ein
„Sittich“ (Kinderschänder) sei. Ich versichere ihm mein Reporterexperiment
so glaubwürdig, dass sich die Spannung löst. Patrick klärt die anderen
Gefangenen über mein Vorhaben auf. Er gibt mir Tipps, welche Bereiche
kameraüberwacht sind – „da bist du sicher“ –, und falls einer
„Schwierigkeiten macht“, soll ich laut rufen. Die meisten Häftlinge
reagieren positiv, weil sich jemand für sie interessiert.
## Sauberkeit statt Aggression
„Konsequent und liberal“, umschreibt Anstaltsleiter Gerd Koop seine
Philosophie. „Es bringt nichts, wenn wir Gefangene 23 Stunden am Tag
wegsperren. Wir fördern die Häftlinge, wir fordern aber auch viel –
besonders mit Blick auf Selbstverantwortung.“ Koop leitet die JVA Oldenburg
seit 23 Jahren. Sein Motto: Morgen sind die Gefangenen wieder unsere
Nachbarn! Der quirlige Mann mit kurzen, grauen Haaren brennt für sein Ziel.
Oberstes Gebot in seiner Haftanstalt: Sauberkeit! „Es gibt einen direkten
Zusammenhang zwischen Sauberkeit und Aggression.“ Laut einer Studie des
Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen gibt es in der JVA
Oldenburg unter 48 untersuchten Haftanstalten die geringste Zahl von
Gewaltvorfällen.
„Wenn der Häftling auf Gewalt und Drogen verzichtet und kooperiert,
gewähren wir ihm vom ersten Tag an eine Reihe von Vergünstigungen. Diese
Privilegien werden weggenommen, wenn der Gefangene gegen die Regeln
verstößt.“ Zu den Großzügigkeiten in Oldenburg zählen: fünf Stunden Bes…
im Monat, auf jeder Station ein Fitnessraum, immer offene Duschen,
Waschmaschine, Küche für selbstständiges Kochen, Freizeitraum mit
Flatscreen-TV, Kicker- und Billardtisch.
„Ein Luxusknast ist das nicht“, sagt Anstaltsleiter Koop. Die Ausstattung
unterscheide sich nicht sehr von der anderer Haftanstalten, es gebe aber in
Oldenburg eine besondere Philosophie. Viele hätten Vertrauen und
Selbstdisziplin nie gelernt. „Deswegen setzen wir auf Sport, Ausbildung,
Therapie und Kommunikation, damit die Häftlinge wieder anfangen, an sich zu
glauben.“
## Fenstergezwitscher
Auch die längsten Aufschlusszeiten gehen mal zu Ende – in Oldenburg sind es
bis zu elf Stunden, gesetzlich vorgeschrieben ist eine Stunde am Tag. Um
19.30 Uhr fällt meine Zellentür zu. Ich spüre die Enge, den endgültigen
Verlust von Freiheit, aber keine Klaustrophobie. Der Weg von der Tür zum
Fenster – gerade mal vier Schritte. Nur Ruhe habe ich nicht: Draußen zum
Hof hin beginnt an den Fenstern das stundenlange Gemurmel der Gefangenen in
zig Sprachen und Gesprächen – mal in der Gruppe, mal zu zweit. Jeder muss
so laut brüllen, dass alle mithören – Intimes, Trauriges, Unterhaltsames.
„Ich setze eine Schokolade auf Bayern München.“ – „Ich halte eine Cola
dagegen.“
Plötzlich färben sich die Gitter am Fenster orange: die Flutlichtanlage.
„Die ersten Tage, besonders die Nächte sind am schlimmsten“, sagt Rico
(mehrfacher bewaffneter Raub, um seine Spielsucht zu finanzieren). „Deine
Gedanken kreisen ständig um die Familie. Was macht deine Frau? Geht’s ihr
gut? Geht sie fremd? Wie entwickeln sich die Kinder?“ Viele verzweifeln
oder drehen durch, höre ich immer wieder. Auf meine Frage, welche Rolle
Zeit im Gefängnis spielt, bekomme ich unterschiedliche Antworten:
U-Häftling Rico meint, sie „zieht sich wie zäher Kaugummi“. Altknackis
dagegen haben sich meist mit den Umständen arrangiert, ihnen vergeht die
Zeit schneller.
Pünktlich um sechs ist die Nacht zu Ende: „Moin.“ Lebendkontrolle – sola…
sich der Gefangene rührt, ist alles okay. In einer halben Stunde Abmarsch
zur Arbeit.“ Die JVA hat fünf Betriebe: Tischlerei und Schlosserei gehören
zur Anstalt, in drei weiteren Betrieben lassen Fremdfirmen Zulieferprodukte
anfertigen. In meiner Werkhalle entstehen Schalttüren für Windkraftanlagen.
Klingt nach Hightech, hat aber die Monotonie von Fließbandarbeit.
## Geringe Entlohnung
Je nach Lohngruppe bekommen die Häftlinge im Schnitt 40 bis 90 Euro im
Monat. Fast alles, was über die Grundversorgung hinausgeht, wird davon
finanziert. Grundversorgung heißt: Wasser aus der Leitung, morgens und
abends je zwei Scheiben Wurst und Käse, früh auf Labbertoast, abends mit
zwei Scheiben Brot, mittags eine warme Mahlzeit. Ich bin nicht
anspruchsvoll, was Essen betrifft, frage mich aber, ab wann bei reiner
Grundversorgung Mangelerscheinungen auftreten.
Der Gefangene wird zu Arbeit angehalten: So kann er sich den Luxus von
Kaffee (500g 4,50 Euro), Schokolade (100g 1,09 Euro), Multivitaminsaft (1
Liter 1,40 Euro) oder Tabak (110 g 14 Euro) leisten. Preise wie im
Supermarkt – die Häftlinge sollen lernen, mit wenig Geld auszukommen. Ab 16
Uhr herrscht Feierabendstimmung auf Station: Die Zellentüren sind offen,
unterschiedliche Musik füllt den Gang, die 30 Meter werden zum Spazieren
und für Gespräche genutzt.
Ich lerne, dass der Knast bei jedem seine Spuren hinterlässt, aber bei
jedem andere: Patrick zum Beispiel verbüßt mit 23 Jahren noch eine
Jugendstrafe. Nachdem er mehrmals Vollzugsbeamte angegriffen hat, sitzt er
hier in seiner sechsten Haftanstalt. „Ich stehe zu meinen Taten“, sagt er
und zieht an einer Zigarette. „Ich hab Gras verkauft, um etwas zu essen zu
haben. Mit ehrlicher Arbeit hat’s nicht funktioniert. Unschuldig bin ich
nicht hier, ich hab ein ungezügeltes Temperament“, sagt er grinsend. Wir
sitzen auf seinem akkurat bezogenen Bett. Darüber ein Foto seiner
Exfreundin. „Der Knast verändert mich nicht zum Positiven – im Gegenteil:
Er macht mich stumpfer und aggressiver“, sagt er fast schon resignierend.
## Ausbildung zum Kirchenmusiker
Ganz anders wirkt Thomas (Totschlag, 15 Jahre): Seine Augen liegen tief, er
hat nur noch wenig Haare. Im Anzug wäre der 46-Jährige der introvertierte
Büroangestellte. Thomas erzählt, dass er bei einem Streit um Geld
„zurückgeschlagen“ hat. Sein Geschäftspartner ging zu Boden, er ließ ihn
liegen – falsche Entscheidung zum falschen Zeitpunkt: Thomas hat ein
Menschenleben auf dem Gewissen. Seine Tochter wurde gerade eingeschult.
„Wenn ich rauskomme, ist sie eine junge Frau.“ Die schwarzen Ränder unter
seinen Augen füllen sich mit Tränen.
Mein Gefühl sagt, Thomas ist kein Sicherheitsrisiko! Direktor Koop
entgegnet: „Es bleibt eine so entsetzliche Tat, dass der Gesetzgeber die
entsprechende Strafe dafür vorsieht.“ Gerade bei Menschen, die vorher nie
gefehlt haben, könne Strafvollzug helfen, wieder mit sich selbst und mit
der Bewältigung der Tat klarzukommen. „Die Tat hat jeder selbst begangen
und niemand anders.“
Ich bekomme Besuch von Holger. Sein Beispiel zeigt, dass die Philosophie
der Anstalt funktionieren kann. Der Exhäftling ist nicht nur Nachbar in
Oldenburg, sondern inzwischen als Organist in der Anstalt tätig. Der
52-Jährige mit dem schlichten Pulli und dem kurzen, grauen Bart war
Drogenkurier. „Richter und Anwälte gehörten zu meinen Kunden.“ Dann flog …
auf. Mit Unterstützung durch Anstaltsleiter Koop bekam der Hobbykeyboarder
hinter Gittern eine Ausbildung zum Kirchenmusiker. Jetzt spielt er jeden
Sonntag in der Kapelle mit den bunten Kirchenfenstern – zunächst gegen den
Widerstand einiger Vollzugsbediensteter. Dass er jetzt als
Volkshochschullehrer arbeitet, verdankt er seinem Umfeld: „Durch Bildung
und Hilfe von außen hatte ich Alternativen. Andere haben das nicht – kein
Job, kein Geld –, und sie rutschen wieder in die alten Mechanismen.“
## Resumé
Einen Tag vor meiner Entlassung fange ich an, die Stunden zu zählen. Das
Schlussgespräch mit der Anstaltsleitung führe ich noch in
Häftlingsklamotten. Gerd Koop will wissen, was ich durch meinen Aufenthalt
gelernt habe. Ich antworte: Die kriminelle Suppe, in der ich vier Tage
schwamm, besteht aus Menschen. Die meisten Gefangenen glauben nicht, dass
der Knast sie „besser“ macht. Nicht alle, aber viele haben erkannt, dass
dies von ihnen selbst kommen muss. Bei manchen ist klar, dass sie ein
Gefängnis nie wieder von innen sehen werden, bei anderen, zum Beispiel
Süchtigen, scheint der Rückfall in die Kriminalität vorprogrammiert. Mir
als Journalist wird das Wort „Luxusknast“ nicht mehr so leicht über die
Lippen kommen. Freiheitsentzug bleibt eine schwere Strafe.
Es ist der Verlust von Lebenszeit. Humor, schöne Erlebnisse und menschliche
Wärme gehen hinter Gittern gegen null.
23 Feb 2015
## AUTOREN
Toni Schmitt
## TAGS
Knast
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JVA
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