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# taz.de -- Schauspielhaus Zürich und Coronavirus: Emotion direkt in die Kamera
> Am Schauspielhaus Zürich musste die neue Leitung gleich mit Schließungen
> wegen Corona umgehen. Der Neustart gleicht einem Hindernislauf.
Bild: Szene aus „Einfach das Ende der Welt“ mit Benjamin Lillie, Matze Prö…
Nichts hat sich verändert. Zu Hause, das ist immer noch diese Ansammlung
von Möbeln und Alltagsgegenständen: der in warmen Farben gestreifte
Sofaüberwurf, Mutters Muschel- und Schwemmholzsammlung, ihr Glitzerpulli
über der Stuhllehne, der Hunde-Impfpass in der Schublade mit den
Stoffresten. In der Küche die Gläser, die nicht zueinander passen, gut
gefüllte Mehlmottenfallen, selbstgemalte Kinderbilder, im Bad leere
Klorollen und graue Haarbüschel in der Bürste, und im Jugendzimmer,
scheinbar unangetastet, Pornozeitschriften (schwul und hetero).
Eine Welt ohne Menschen, aber voller Spuren, die sie hinterlassen haben.
Schauspieler Benjamin Lillie, der hier unter seinem echten Namen nach
angeblich zwölfjähriger Abwesenheit erstmals wieder nach Hause zurückkehrt,
um seiner Mutter und seinen Geschwistern mitzuteilen, dass er todkrank ist,
geht mindestens 20 Minuten lang mit der Handkamera durch das kreativ
angeschmuddelte Wohnungsenvironment von Jonathan Merz und lässt das
Publikum mit ihm wortlos in Erinnerungen eintauchen. Und damit in ein
hochindividuelles und zugleich superallgemeines
Untere-Mittelschichts-Umfeld, in dem Deko-Objekte, Kulturkonsumgüter
(„Stand by me“, „Pretty Woman“) und der am Schlagzeug begleitete
Elektrosoundtrack von Matze Pröllochs wie Jahresringe die vergangene Zeit
dokumentieren.
Es ist „[1][Streamy Thursday“ am Schauspielhaus Zürich], das am 12.
Dezember erneut schließen musste; gespielt wird Jean-Luc Lagarce’ „Einfach
das Ende der Welt“, geschrieben 1990, uraufgeführt neun Jahre später,
dazwischen starb 1995 der Autor an Aids. „Wir wollen, so gut es geht, die
Liveness der Aufführungen vermitteln“, erklärt Co-Intendant Benjamin von
Blomberg im Telefoninterview.
## Geschichten mitbestimmen
Während des ersten Lockdowns im Frühjahr war das Team um ihn und
[2][Regisseur Nicolas Stemann sich einig], dass Streaming auf Teufel komm
raus keine Lösung sein kann: „Die Generation der Digital Natives macht
Theater, weil sich das eben nicht im Netz verwerten lässt“, schrieb Stemann
damals in seiner frisch aufgelegten NZZ-Kolumne, [3][deren zehn Folgen
kürzlich als Buch unter dem Titel „Corona-Passion“] erschienen sind. Wenn
schon, müsse man ganz neue Formate finden.
[4][Christopher Rüping], einer der Zürcher Hausregisseur:innen und vor
allem durch seine Arbeiten an den Münchner Kammerspielen überregional
bekannt, versuchte bereits im Mai, eine ältere Inszenierung von Krzysztof
Kieślowksis „Dekalog“ einmalig ins Netz zu verlegen: Schon in der
Liveversion durfte das Publikum über die Verläufe der Gebotsgeschichten
mitbestimmen, mit einem Abstimmungstool ließ Partizipation sich auch online
organisieren.
Seine Inszenierung von „Einfach das Ende der Welt“ funktioniert anders:
Nach einer Begrüßung übergibt Rüping eine Kamera an Protagonist Benjamin
Lillie, der sich scheinbar vertraulich an uns, 800 Streaming-Ticket-Käufer,
wendet, wenn er wie in einer Insta-Story direkt in die Kamera von seiner
tödlichen Krankheit erzählt. Sie ist der Grund, weshalb er, der schwule,
mittlerweile bekannte Künstler, noch einmal nach Hause fährt.
Doch die Kamera bleibt nicht so radikal subjektiv, wie der Auftakt
suggeriert. Nach dem Gang durch die Wohnung wird die Installation zügig von
einem guten Dutzend Bühnenarbeiter:innen abgebaut.
Die hochgeklappten Böden dienen als Kulisse für den zweiten Teil, in dem
das Geschehen aus zwei weiteren Perspektiven gefilmt wird, aber auch
Benjamin selbst immer wieder zur Kamera greift und sein Aufeinandertreffen
mit der kindlich-quietschenden Mutter (Ulrike Krumbiegel), der selbst
kunstambitionierten kleinen Schwester (Wiebke Mollenhauer), dem
passiv-aggressiven Bruder (Nils Kahnwald) und der in jedes Fettnäpfchen
tappenden Schwägerin (Maja Beckmann) dokumentiert. Eine
Distanzierungsmaßnahme, die den schwelenden Familienkonflikt zusätzlich
befeuert: Hält er sich für was Besseres? Sind die anderen für ihn nur
Material? Und selbst die Todesankündigung: Muss es immer nur um ihn gehen?
## Weder Aids- noch Klassenfragen schärfen den Konflikt
Lagarce’ vermutlich autobiografisch gefärbtes Außenseiterdrama erzählt im
Grunde eine Eribon-Geschichte ohne explizit reflektierte Klassenthematik,
dafür mit HIV-Virus. In Rüpings in die Gegenwart gerückter Inszenierung
schärfen weder Aids noch Klasse den Konflikt, und das wirft schon einige
Fragen auf: Warum war Benjamin zwölf Jahre lang nicht zu Hause? Was ist an
diesem nicht unfreundlichen Durchschnittsspießertum, das Jonathan Merz
ästhetisch so nah an ein bürgerliches Publikum gerückt hat, so schrecklich?
Und was wäre umgekehrt so schrecklich daran, wenn er woanders eine viel
tollere Wahlfamilie gefunden hätte?
Während die Kameras um das Ensemble herumtanzen, wird man nicht wirklich
schlauer, ahnt aber, dass diese performative Familienaufstellung im
Theaterraum anders wirken würde als auf dem Bildschirm: Zu nah ist die
Kamera an den Schauspieler:innen, die allesamt Emotionen virtuos hoch- und
wieder runterfahren können, zu wenig gebrochen andererseits das immer
wieder naturalistische Spiel durch die provisorische Raumsituation.
Als „eine bedrohliche Chance“ bezeichnet Benjamin von Blomberg die
Situation des Theaters in der Pandemie. Einerseits könne man nun Gedanken
und Konzepte auf ihre Substanz hin überprüfen, andererseits fehle der
Institution die informelle Leichtigkeit: „Ohne echte Begegnungen bekommt
Frustration ein extremes Gewicht.“
## Für 50 Leute gespielt
Gleich in die erste Spielzeit der neuen Leitung am Zürcher Schauspielhaus
war das Coronavirus geplatzt, von Ende März bis Anfang Juni blieb das Haus
geschlossen. Seither durfte nur vor verkleinertem Publikum gespielt werden,
erst noch im „Schachbrettmuster“, bald bloß vor 50 Menschen. Von Blomberg,
der zuvor am Theater Bremen und an den Münchner Kammerspielen Neustarts
mitgestaltet hat, meint: „Normalerweise würde jetzt in der zweiten
Spielzeit kenntlich werden, dass wir zwar nett sind, aber dass das Theater,
das wir machen, schon auch richtig anders ist.“
Tatsächlich versucht die neue Leitung, die schon auch mit dem
Richtig-nette-Jungs-Image kokettiert, den Theaterbegriff für das
Schauspielhaus weiter und internationaler zu fassen als zuletzt unter
Barbara Frey. Zwar stehen, wie in dieser Spielzeit, auch eine
Christoph-Marthaler- oder Milo-Rau-Inszenierung auf dem Plan, doch die sind
eher die Ausnahme.
Hauptsächlich bestreiten Hauskünstler:innen das Programm, neben Christopher
Rüping und Nicolas Stemann die Regisseur:innen [5][Leonie Böhm], Alexander
Giesche (dessen Max-Frisch-Inszenierung [6][„Der Mensch erscheint im
Holozän“ dieses Jahr zum Theatertreffen eingeladen war und noch bis 12. 3.
in der 3sat-Mediathek] zu sehen ist), Suna Gürler und Yana Ross, außerdem
der Choreograf Trajal Harrell und die bildende Künstlerin Wu Tsang, die in
dieser Spielzeit auch fast alle schon zum Zug gekommen sind. Die
Entscheidung, vor stark verkleinertem Publikum weiterzuspielen, obwohl das
teurer ist als stillzuhalten, wurde im Einvernehmen mit dem Betrieb
gefällt.
Vielleicht ist es ja Glück im Unglück, erst mal ein kleineres Publikum mit
neuen, oft queereren Ästhetiken bekannt machen zu können – und die in der
Regel auf Auslastungszahlen zielende Frage nach dem Erfolg des
Schauspielhauses hintanstellen zu können. „Wir werden also eher an dem
gemessen, was wir tun, und die Reaktionen darauf sind enorm positiv“, sagt
von Blomberg. „Die Leute merken, dass wir die Situation möglichst offen und
umsichtig und achtsam gestalten.“
22 Dec 2020
## LINKS
[1] https://www.schauspielhaus.ch/de/19818/streamy-thursday
[2] /Aus-Fernsehen-wird-Theater-Borgen/!5275990
[3] https://www.alexander-verlag.com/programm/neuerscheinungen/titel/475-corona…
[4] /Brechts-Im-Dickicht-der-Staedte/!5657127
[5] /Regisseurin-Leonie-Boehm/!5644369
[6] https://www.3sat.de/kultur/theater-und-tanz/starke-stuecke-der-mensch-ersch…
## AUTOREN
Eva Behrendt
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