| # taz.de -- Theaterfestival Lessingtage: Nur Zufallstreffer | |
| > Die Lessingtage am Hamburger Thalia Theater finden diesmal nur online | |
| > statt – ohne Kurator oder Jury. Das merkt man dem Programm an. | |
| Bild: Szene aus „So ist es (wenn es Ihnen so scheint)“ vom Teatro Stabilo | |
| Seit zwölf Jahren finden am Thalia Theater die Lessingtage statt – ein | |
| internationales Festival, das Produktionen aus Deutschland und aller Welt | |
| zeigt. Ganz im Geiste des Aufklärers Lessing, immer um Toleranz bemüht, | |
| sollen das Abende sein, die sich mit den zentralen Fragen und Werten | |
| auseinandersetzen, die unsere Welt umtreiben. Vergangenes Jahr drehte sich | |
| alles um Klimawandel, Migration und Kolonialismus, zuvor standen | |
| Produktionen zu Krise und Aufruhr auf dem Spielplan. | |
| Diesmal heißt das Motto „Stories from Europe“ – ein unspezifisches Motto, | |
| das lediglich bedeutet, dass bei dieser Festivalausgabe europäische Theater | |
| ihre Arbeiten präsentieren. Wenn man es denn Festival nennen möchte. | |
| [1][Letztlich gleicht es mehr einer Videoplattform], auf der die Mitglieder | |
| des europäischen Bühnennetzwerks „mitos21“ eine selbst ausgewählte | |
| Inszenierung ihres Hauses zeigen dürfen. Elf große Theater sind dem Aufruf | |
| gefolgt, etwa aus Schweden, Italien, Frankreich, Belgien, Russland. Gezeigt | |
| werden die Videos in Originalsprache, Englisch übertitelt. | |
| Zum Auftakt ließ das Thalia zudem europäische Theatermacher zu Wort kommen, | |
| statt wie sonst einen prominenten, gesellschaftskritischen Eröffnungsredner | |
| einzuladen. Ein unspektakulärer kleiner Film ist das – und doch sehr | |
| bewegend, mit welcher Entschlossenheit und welchem Optimismus Regisseure | |
| wie Simon McBurney, [2][Thomas Ostermeier] oder Ivo van Hove über das | |
| Theater in der Krise sprechen. Am rotzigsten bringt es die slowenische | |
| Regisseurin Mateja Koležnik auf den Punkt: „Art is needed. Without art life | |
| is just a barbaric day to day piece of shit.“ | |
| Diese zwölfte Ausgabe lehrt den Zuschauer wie die Kritikerin nun aber etwas | |
| Grundsätzliches: Ein Festival braucht eine Kuratorin – oder eine Jury. | |
| Jedenfalls eine Instanz, die den gesamten Festivalzeitraum überblickt und | |
| Inszenierungen aus ästhetischen und inhaltlichen Gründen für das eigene | |
| Publikum auswählt. Oder Produktionen bündelt, die ähnliche Themen | |
| verhandeln. Die Lessingtage haben diesmal weder Kurator noch Jury. Und das | |
| stellt sich als größte Leerstelle heraus. | |
| Zu leicht gemacht | |
| Das digitale Format ist selbstverständlich der Coronapandemie geschuldet. | |
| Doch leichter, als zwei Hände voll Videos unsortiert online zu stellen, | |
| kann man es sich nun wirklich nicht machen. Dabei sind internationale | |
| Festivals eine hoch komplexe Angelegenheit. Wie importiert man eine | |
| Inszenierung, die für ein kulturell, politisch, ästhetisch anders geprägtes | |
| Land entstanden ist, nach Deutschland, ohne dass die Kunst nur exotisch | |
| oder unverstehbar bleibt? | |
| Nehmen wir zum Beispiel Russland. Am Mittwoch zeigt das Theater der | |
| Nationen in Moskau seine Bearbeitung des Dostojewski-Romans „Der Idiot“, | |
| die Kritikerin durfte sie bereits sehen. Darin tanzt ein weiblicher Clown | |
| in Charlie-Chaplin-Look anderthalb Stunden auf einer Drehbühne, über die | |
| Projektionen von Sternen, Herzchen und Konfetti fliegen. Zwei Männer, als | |
| feine Damen verkleidet, versuchen, die Clownin für sich zu gewinnen. Dann | |
| fließt Blut, ein Widersacher im Bärenmantel rüpelt herum, dazwischen ein | |
| Einhorn. Statt zu sprechen quiekt die Clownin wie ein eingeklemmtes | |
| Mäuschen, der Bärenmantel-Kerl knurrt, die Frau-Männer singen. | |
| In Russland ist Dostojewski fester Kanon-Bestandteil, der anscheinend | |
| keiner Worte mehr bedarf. Für deutsche Zuschauer bleibt der Abend | |
| undechiffrierbar. Eine poetische Kraft kann sich via Bildschirm zudem nicht | |
| entfalten. Keine Kuratorin hätte diese Arbeit wohl für ein deutsches | |
| Publikum ausgewählt. | |
| Verbunden über Bildschirme? | |
| Diesmal jedoch können Menschen von überall auf der Welt zusehen. Die | |
| Festivalleitung preist das verbindende Element daran – aber wie verbindend | |
| ist es wirklich, vor dem heimischen Bildschirm Parallel-Zuschauer in | |
| Spanien zu imaginieren? | |
| Glücklicher wurde man bei der Stockholmer Adaption des „Idioten“ vom | |
| Dramaten Theater, eine zugängliche, auf Psychologie setzende Produktion. | |
| Rührend und komisch, wie David Denciks titelgebender Idiot geradeheraus, | |
| mit rechtem Herzen doch nie selbstgerecht, die narzisstische Gesellschaft | |
| um sich entlarvt. Nur die vielen Aktualitätsversicherungen des Regisseurs | |
| Mattias Andersson – von der Gender- bis zur Flüchtlingsdebatte – wirken | |
| allzu belehrend. | |
| Auch der Pirandello-Klassiker „So ist es (wenn es Ihnen so scheint)“ | |
| inszeniert vom Teatro Stabile di Torino hielt bedenkenswerte Einsichten in | |
| das Wesen der Wahrheit bereit, sobald man sich an das lautstarke | |
| Temperament des italienischen Ensembles gewöhnt hatte. Mit „Nora“, dem | |
| „Kaukasischen Kreidekreis“ und „Maria Stuart“ (letztere beiden aus Berl… | |
| vom Berliner Ensemble und dem Deutschen Theater) stehen bis Sonntag noch | |
| viele Klassiker auf dem Programm – doch es bleibt eine Zufallsauswahl, | |
| deutlich weniger an gesellschaftspolitische Fragen andockend als sich die | |
| Lessingtage zuletzt präsentiert hatten. | |
| 26 Jan 2021 | |
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| [1] https://www.thalia-theater.de/programm/festivals/lessingtage/lessingtage-20… | |
| [2] /Thomas-Ostermeier-ueber-geschlossene-Buehnen/!5734246 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Behrendt | |
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