| # taz.de -- Wie Corona Kunst und Kultur verändert: Theater im Wohnzimmer | |
| > Die einen lassen sich vom Virus inspirieren, anderen raubt es die | |
| > Existenz. Das Coronavirus verändert die Gesellschaft und Kunstschaffende. | |
| Bild: Inwieweit wird Corona andere fiktionale Erzählungen, andere kulturelle B… | |
| In [1][„Grey’s Anatomy“] trägt man Maske. Die Mediziner*innen der Serie | |
| über ein fiktives Krankenhaus in Seattle sind aus der Staffelpause zurück – | |
| und müssen sich vor allem mit einem Problem herumschlagen: „In Manhattan | |
| führt ein Ärzteteam eine Covidstudie mit monoklonalen Antikörpern durch“, | |
| kündigt darum eine Fernsehdoktorin aufgeregt an, die mit einer Art | |
| Astronautenhelm in der mittlerweile siebzehnten Staffel die Intensivstation | |
| betritt, „und die haben noch Platz für genau zwei Patienten“. | |
| Damit ist die erfolgreiche Serie, deren narrativer Kern eigentlich (anders | |
| als im [2][„Emergency Room“]) stets eher um die amourösen Verstrickungen | |
| ihrer Protagonist*innen kreiste, eine der ersten fiktionalen Erzählungen, | |
| die von der Realität eingeholt wurden: Das Virus und seine Auswirkungen | |
| bestimmen die Handlung. | |
| Die Autor*innen konsultierten medizinische Berater*innen, die nach Stand | |
| der Dinge – geschrieben wurde im März und April 2020 – Auskunft gaben; für | |
| Dreh und Produktion wurden Cast und Crew durchgehend getestet und | |
| arbeiteten teilweise in geschlossenen Sets. Dazu kamen die echten Verluste | |
| in der echten Welt – der Bruder einer Produzentin war das dreitausendste | |
| US-amerikanische Covid-19-Opfer. | |
| Die Totenzahlen sind mittlerweile auf über 315.000 gestiegen, die | |
| Antikörpertherapie ist eingesetzt worden – unter anderem bei Donald Trump. | |
| Dass Corona in einer aktuellen Krankenhausserie wüten muss, ist | |
| folgerichtig. Doch inwieweit wird Corona andere fiktionale Erzählungen, | |
| andere kulturelle Beiträge prägen? Wird man die Kunst, die Kultur | |
| irgendwann klar in „Prä-“ und „Post-“Corona einordnen können? | |
| ## Dreharbeiten in geschlossenen Sets | |
| Auf jeden Fall fräst sich das Virus, ähnlich wie bei den Erkrankten mit | |
| Langzeitschäden, durch sämtliche Narrative. Denn die Erfahrung mit der | |
| Pandemie ist global und kollektiv: Egal wo und was man ist, welche Art von | |
| Kunst man herstellt – das Virus wird eine Rolle gespielt haben. Welche – | |
| das scheint ebenso divers, wie die jetzige Erfahrung damit: Manche sind | |
| kaum betroffen, manche auf allen Ebenen. [3][Manche machen Pleite], manche | |
| sind Krisengewinner*innen. | |
| Corona kann für [4][Familiendramen] und wirtschaftliche Tragödien sorgen, | |
| es kann Solidarität bebildern oder Egomanie. Das Virus kann der Antrieb für | |
| einen Filmplot sein, für einen Romanhelden oder die Heldin eines | |
| Theaterstücks, für ein Trauma, für einen Songtext oder eine Skulptur. „Ich | |
| finde die kollektive Erfahrung inspirierend“, sagt die bildende Künstlerin | |
| [5][Susanne Schirdewahn], die vor einer ihrer Skulpturen in einer Berliner | |
| Galerie steht. | |
| Das Gebilde aus Schaumstoff, Sportmedaillen an Bändern, die das Material in | |
| eine Schweinekopfform zwingen, und Flitter hängt an der Wand wie ein | |
| spöttischer Abgesang auf das Hirschgeweih. Schirdewahn hat den | |
| beängstigenden, an „Herr der Fliegen“ und den Vierjahresplan der Nazis für | |
| Schweinezucht erinnernden Kunst(stoff)kopf während der Anfangszeit der | |
| Pandemie geschaffen, als das Thema Sicherheit sie stark umtrieb, so wie | |
| alle. Vielleicht ist ihre Skulptur darum auch von allen gut zu erspüren? | |
| Schirdewahn spricht von der Idee der „sozialen Plastik“, ein Begriff für | |
| Kunst, die gestaltend auf die Gesellschaft einwirkt, sie verändert – man | |
| würde damit nicht nur in eine Richtung arbeiten, also die Realität (Corona) | |
| die Kunst beeinflussen lassen, sondern auch umgekehrt. Es könnte eine | |
| Wechselwirkung sein – das Virus verändert die Gesellschaft, die | |
| kunstschaffenden Mitglieder der veränderten Gesellschaft produzieren Kunst, | |
| und diese Kunst verändert die Gesellschaft ein weiteres Mal. | |
| ## Mehr Medienkonsum im Lockdown | |
| Quantitativ war diese Veränderung messbar: Weil der Bedarf an Kultur (oder | |
| „Abwechslung“) während der Pandemie stieg, waren mehr Inhalte gefragt. (Das | |
| durften durchaus alte sein: Der Lockdown fesselte nicht nur ans Haus, | |
| sondern auch an die alten Bücher, die alten Filme, für die man nie Zeit | |
| hatte.) Eine Umfrage des [6][Wirtschaftsunternehmens Deloitte] weist im | |
| Jahr 2020 eine um zwischen 38 und 55 Prozent erhöhte Mediennutzung nach – | |
| bei Mediatheken, Spielen, VoD bis hin zu linearem Fernsehen. # | |
| Doch auch qualitative Auswirkungen erlebte man: Nie bekamen | |
| [7][unkompliziert und schnell produzierte, und ohne großen Vorlauf | |
| ausgestrahlte, kurze (Web-)Serien], die aktuelle, nahe Geschichten | |
| erzählten („Drinnen“, „Für umme“, „#heuldoch“), so viel Aufmerksa… | |
| während der Krise. Gewiss liegt das auch am Trend zu kurzen Formaten, den | |
| unkende Kulturforscher*innen schon lange mit einem abnehmenden | |
| Konzentrationsvermögen in Verbindung bringen. | |
| Wird man also in der Post-Corona-Zukunft wieder andere, eskapistischere | |
| Themen erleben, Kunst und Kultur wieder als Möglichkeit für die Flucht an | |
| einen Ort ohne Corona nutzen? Und wird es diese Orte noch geben? „Man muss | |
| ein bisschen aufpassen“, sagt [8][Frank Spilker,] Musiker, Autor und Kopf | |
| der Band Die Sterne, „dass nicht in jedem Roman, auf jeder Platte Corona | |
| ein Thema sein wird.“ | |
| Es gab in diesem Jahr eine Menge Lockdown-Platten, von Miley Cyrus’ | |
| Selbstbespiegelung über Paul McCartney, der aus reiner Langeweile | |
| überzeugend an alten Skizzen herumgedudelt hat, bis hin zu den persönlichen | |
| Befindlichkeitssongs von AnnenMayKantereit. In den nächsten Jahren werden | |
| zudem haufenweise Lockdown-Romane den eh tendenziell dichten Büchermarkt | |
| überschwemmen – natürlich hoffentlich nicht nur mit Pandemiegeschichten. | |
| Doch jegliche Kunst, die das Jetzt spiegelt, hat das immer noch nicht | |
| überstandene Trauma über- und erlebt. Auch Spilker glaubt, dass „die | |
| Erfahrungen dieses Jahres in meinem Schaffensprozess eine Rolle spielen | |
| werden“. Auf seiner aktuellen Platte, die im letzten Jahr geschrieben | |
| wurde, ist das noch nicht so. Die Tour dazu wurde zum größten Teil | |
| abgesagt, Spilker arbeitet momentan an einem Hörspiel, das eigentlich im | |
| April hätte produziert werden sollen. Die Krise hat sich also bislang nur | |
| wirtschaftlich ausgewirkt. | |
| ## Jede Menge Lockdown-Platten | |
| Einiges kann nachgeholt werden, aber Spilker glaubt, dass die Leute auch | |
| mit Impfstoff nur zögernd wieder zu Livekonzerten gehen werden. Dennoch | |
| hofft er, dass nach der Krise die Wertschätzung für Kultur steigt: „Dass | |
| das, was sonst selbstverständlich da war, tatsächlich hergestellt werden | |
| muss – das wird Menschen gerade bewusster.“ Und eine Livesituation hat, ob | |
| vor, während oder nach Corona, zudem nach wie vor eine soziale Bedeutung: | |
| Menschen müssen zusammenkommen – der Sexualtrieb ist, wenn man Freuds | |
| Triebtheorie der endogenen Grundbedürfnisse Glauben schenkt, im | |
| Zweifelsfall stärker als der Selbsterhaltungstrieb. | |
| Substitutionsveranstaltungen wie gestreamte Theaterstücke, Filme oder | |
| Konzerte werden darum Notlösungen bleiben. Ausnahmen wie das bezaubernde | |
| Gesamtpaket der Multitude [9][Hans Unstern], die mit dem | |
| Theaterkonzertevent „Diven“ im Juni zeigte, wie vielfältig es im Stream | |
| zugehen kann, wird es immer geben. | |
| Aber ein solches Konzept passt nicht auf jede Art von Kultur. Das erkennt | |
| man auch am Unwillen vieler Kultur-Festivalmacher*innen, ihre | |
| Veranstaltungen virtuell durchzuziehen: Zwar werden die Klickzahlen danach | |
| trotzig in jeder Pressemitteilung als Erfolg gefeiert. Doch die private | |
| Zu-Hause-Rezeption eines Stücks Kultur, auf die entweder gar nichts, oder | |
| ein Chatgespräch folgt, ist nicht das Gleiche wie eine Premierenparty. Das | |
| digitale Know-how wird bleiben – die Lust auf Videoveranstaltungen eher | |
| abnehmen. | |
| Kunst und Kultur sind Teil der Gesellschaft, sie sind heilend, sogar | |
| lebensnotwendig – in [10][Stefan Zweigs „Schachnovelle“, die soeben von | |
| Philipp Stölzl neu für die Leinwand adaptiert] wurde, zerbricht ein | |
| kulturell gebildeter Mann fast an einer Folter, die ihm jede Form des | |
| geistigen Inputs versagt. Wobei die Situation nicht mit der momentanen zu | |
| vergleichen ist: Außer Gefangenen in illegalen Isolationsgefängnissen nutzt | |
| jeder Mensch Kultur, selbst wenn gerade keine neue entsteht. | |
| ## Zweigs „Schachnovelle“ zufällig aktuell | |
| Denn er kann Vorhandenes konsumieren, er kann sie, zur Not, selbst | |
| herstellen, kann singen, tanzen, malen. Die „Schachnovelle“ sollte | |
| eigentlich längst in die Kinos kommen, der Start wurde – natürlich – | |
| mehrfach verschoben. Barbara Schmidt und Marten Schumacher haben den Film | |
| in ihrer Filmpresseage,tur betreut, und immer wieder neue Daten | |
| losgeschickt. „Es war ein bisschen wie,`Und täglich grüßt das Murmeltier'�… | |
| sagt Schmidt. „Diese extreme Planungsunsicherheit hat es sehr unangenehm | |
| gemacht.“ | |
| Es sei schon erstaunlich, so Schumacher, dass „das Wirtschaftsministerium | |
| teilweise gar nicht weiß, wie die Wirtschaft funktioniert“. Die beiden | |
| glauben nicht an eine höhere Wertschätzung nach Corona – sie erleben seit | |
| Jahren, wie sich Arthouse-Kino immer schwerer behaupten kann, wie der Wille | |
| sinkt, für „Unterhaltung“ eine Gegenleistung zu erbringen. „Die | |
| konsumistische Einstellung wird sich verstärken“, sagt Schumacher, „die | |
| Filmsprache wird zunehmend eine Geschichte für die Eliten.“ | |
| Man hätte nicht erst die Lockdown-Zeit, sondern auch schon die Jahrzehnte | |
| vorher für eine bessere Kulturbildung und -vermittlung nutzen sollen – Film | |
| kommt zum Beispiel gar nicht in den Schulen vor, bemängelt Schmidt. Filme | |
| wie „Die Schachnovelle“, [11][Theaterstücke wie Clemens Schönborns und | |
| Sophie Rois’ Fassung von Marlen Haushofers Isolationsstück „Die Wand“], … | |
| im Januar 2020 im Deutschen Theater in Berlin Premiere hatte und danach | |
| monatelang pausierte, passen zum Thema – aber das ist (noch) Zufall. | |
| In einer hoffentlich nicht fernen, coronafreien Zukunft, in der sich die | |
| Produktionsbedingungen normalisiert haben, wird man auch wieder und erst | |
| recht andere Post-Corona-Geschichten hören wollen – vielleicht wird, | |
| ähnlich wie in der deutschen Nachkriegszeit, sogar die Lust am Eskapismus | |
| gestiegen sein: Wenn die Realität hart ist, verschließt man davor gern die | |
| Augen und öffnet sie für eine Fantasiewelt mit Superheld*innen, blendend | |
| aussehenden Stars oder blauen Hippie-Humanoiden. | |
| Klar ist aber, dass Post-Corona viele Kulturschaffende verschwunden sein | |
| werden – und damit ihre Stimmen, Ideen und Visionen. Dabei bedeutet das | |
| lateinische Wort „cultura“ Bearbeitung und Bebauung. Kultur muss man | |
| nämlich nicht nur tüchtig pflegen, sondern auch tüchtig pflügen. | |
| 30 Dec 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.fernsehserien.de/greys-anatomy | |
| [2] https://www.fernsehserien.de/emergency-room | |
| [3] /Selbststaendige-und-Corona/!5730477 | |
| [4] /Haeusliche-Gewalt-im-Lockdown/!5733652 | |
| [5] http://www.susanne-schirdewahn.de/ | |
| [6] /Corona-und-Fernsehproduktionen/!5700388 | |
| [7] /ZDFneo-Serie-Liebe-Jetzt/!5728865 | |
| [8] /Frank-Spilker-ueber-Die-Sterne/!5664861 | |
| [9] /Songwriter-Hans-Unstern-ueber-neues-Album/!5685331 | |
| [10] https://www.kino.de/film/schachnovelle-2020/ | |
| [11] https://www.deutschestheater.de/programm/a-z/sophie-rois-faehrt-gegen-die-… | |
| ## AUTOREN | |
| Jenni Zylka | |
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