# taz.de -- Selbstständige und Corona: Das Spiel ist aus | |
> Unsicherheit gehörte auch vor Corona zum Leben ohne Festanstellung dazu. | |
> In der Krise lässt der Staat Selbstständigen links liegen. | |
Bild: Die Soforthilfen z:b: für selbständige KünstlerInnen waren oder sind e… | |
Manchmal sieht mein Arbeitsalltag wie folgt aus: Ein Redakteur ruft gegen | |
11 bei mir an. Sein Name auf dem Display zeigt mir schon: Sie haben heute | |
mal was ganz Originelles vor /ein eingeplanter Text ist weggebrochen / der | |
andere Freiberufler geht mal wieder nicht ans Telefon. | |
Er nennt mir ein Thema, mit dem ich üblicherweise nichts anfangen kann. Ich | |
weiß nichts darüber, und es interessiert mich auch nicht. Bis 14 Uhr muss | |
es fertig sein. Ich sage meistens zu, weil ich das spannend und | |
herausfordernd finde: der Sprung ins tiefe Wasser; das erste Mal Radfahren | |
ohne Stützräder; bei der Serie die Untertitel vergessen zu haben, und es | |
fällt mir erst nach einer Stunde auf. Es ist die reinste | |
Improvisationsübung, für mich ist es im Grunde ein Spiel. | |
Dafür bekommen Leute wie ich jetzt gern die Quittung. Denn für anständige | |
Bürger sieht es immer schon so aus, als ob wir spielten, während sie | |
arbeiten. [1][Vor Corona konnten wir uns noch damit durchmogeln]. Klar, für | |
viele von uns war da immer die Unsicherheit, woher der nächste Auftrag | |
kommen soll, ob sich das Buch oder die CD verkauft, wie ich genügend Kunden | |
für meinen Yogakurs oder Theaterworkshop akquiriere. Unsicherheit, | |
Anspannung, Armut und vor allem drohende Altersarmut nahmen wir gern in | |
Kauf. | |
Denn wir haben es uns ausgesucht. Es ist ja auch ein Luxus. Im Gegensatz zu | |
den Festangestellten entscheiden wir selbst, wo, wann und von wem wir | |
gemobbt, geknechtet und zurechtgewiesen werden. Und wir sind Millionen. Wir | |
sind ja auch Schausteller, Grillwalker, Glühweinbudenbetreiber. Wir zahlen | |
Milliarden von Steuern. Wir sind gar nicht alle schlecht. Manche von uns | |
sind noch nicht einmal Versager. | |
Traditionelles Misstrauen gegenüber Kreativen | |
Das sieht der Staat jedoch anders. Instrumente wie Kurzarbeit und | |
großzügige Kredite kommen nur den Festangestellten zugute, mit dem Umweg | |
über ihre Arbeitgeber. [2][Wie Sascha Lobo auf Spon richtig schreibt], | |
manifestiert sich hier eine sich aus Misstrauen speisende, traditionelle | |
Verachtung, die die Politik dem Kreativen entgegenbringt: Was macht der da | |
in seinem Kämmerlein? Das lässt sich ja gar nicht richtig kontrollieren. | |
Vater, Mutter, Kind, Hund: So sieht für Staat, Kirche und Finanzamt die | |
schier zu Tode unterstützte kleinste Zelle des Systems aus. Als fünfte und | |
sechste Säule gehören unbedingt noch das Auto und die Festanstellung dazu. | |
Wer nicht dazu gehört: Singles, Homosexuelle, Kinderlose, Fahrradfahrer, | |
Soloselbstständige. | |
[3][Die Soforthilfen waren oder sind ein Witz]. Wer dem Lug geglaubt hatte, | |
man könne sich Zeit lassen, es sei genug für alle da, blickte bei der | |
Berliner Soforthilfe in die Röhre. Wer auf die des Bunds setzte, musste | |
wiederum feststellen, dass sie nur für Betriebskosten galt. Büromiete, | |
Maschinen, Mitarbeiter. Für den mittags zu Hause im Nachtgewand Artikel | |
schreibenden Autor wären die einzigen laufenden Kosten jedoch solche für | |
Nudeln und Bier. | |
Am Ende wurden unter Berliner Künstlern dann auch noch Stipendien verlost | |
(!). Und ja, ich habe eins gewonnen. Das Einzige, das ich jemals bekommen | |
werde, denn komische Kunst gilt dem Literaturbetrieb seit jeher als | |
minderwertig – damit reiht er sich mental perfekt in die Politik ein. Die | |
meisten aber haben es nicht gekriegt. Wurden die Gelder für Lufthansa und | |
TUI ebenfalls verlost? Ich glaube nicht. | |
Der Tenor lautet: erstens, selber schuld; zweitens, bezieht doch einfach | |
Hartz IV. Es ging so weit, dass nicht nur der „Kulturrat“ (wtf?), sondern | |
auch manche Kollegen in den sozialen Medien weniger etablierten | |
Kulturschaffenden einen Berufswechsel nahelegten: Arbeit schändet nicht, | |
Kamerad Kasper. Das Spiel ist aus. | |
10 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Corona-und-die-Selbststaendigen/!5731025 | |
[2] https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/corona-hilfen-der-deutsche-staa… | |
[3] /Coronahilfen-fuer-Selbstaendige/!5731975 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
## TAGS | |
Freiberufler | |
Kreative | |
Soforthilfe IBB | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Andropause | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Schaustellerbranche in der Krise: Spenden statt Showtime | |
Eine Schaustellerfamilie sitzt mit 200 exotischen Tieren in Berlin fest. Um | |
nach Corona wieder auf Tour gehen zu können, hofft sie auf Spenden. | |
Selbstständigkeit während Corona: Eine Frage der Wertschätzung | |
2,2 Millionen Soloselbstständige arbeiteten vor Corona in Deutschland. Nun | |
sind viele Existenzen bedroht. taz hat drei Freischaffende wiedergetroffen. | |
Weitere Milliarden für Reisekonzern: Staat kann bei TUI einsteigen | |
Nach der EU-Kommission stimmen auch die Aktionär:innen des | |
Tourismusmarktführers einer Kapitalerhöhung und staatlicher Beteiligung zu. | |
Advent am Berliner Breitscheidplatz: Masken ab nur zum Verzehr | |
Es ist ein klitzekleiner Keinweihnachtsmarkt: Er ist da und er ist nicht | |
da. Eine Stippvisite zum Glühweintrinken auf dem Breitscheidplatz. | |
Corona und die Selbstständigen: Sozialstaat für die Mittelschicht | |
Die Coronamaßnahmen offenbaren die wirtschaftliche Verwundbarkeit vieler | |
Selbstständiger. Das wirft mit Blick auf 2021 neue Gerechtigkeitsfragen | |
auf. | |
Coronahilfen für Selbständige: Statt Geld kommt eine Anzeige | |
Zahlreiche Selbstständige erhalten Vorladungen der Polizei. Der Vorwurf: | |
Subventionsbetrug. Verband spricht von mindestens 8.200 Fällen. | |
Wenn Entscheidungen zu Qual werden: Die Zeit der Zauderer | |
Haben Sie schon einmal erlebt, wie ein Mann in Tränen ausbrach, weil sie | |
ihn fragten, ob er ein Frühstücksei möchte? Das ist ganz normal! |