| # taz.de -- Wenn Entscheidungen zu Qual werden: Die Zeit der Zauderer | |
| > Haben Sie schon einmal erlebt, wie ein Mann in Tränen ausbrach, weil sie | |
| > ihn fragten, ob er ein Frühstücksei möchte? Das ist ganz normal! | |
| Bild: Schon die kleinsten Entscheidungen können einem die Haare zu Berge stehe… | |
| Ich stelle fest, dass es mich zunehmend schmerzt, Entscheidungen jeder Art | |
| zu fällen. Ein junger Mensch vermag sich diese Agonie, die mich ergreift, | |
| sobald auch nur der [1][allerkleinste Entschluss von mir erwartet wird], | |
| nicht vorzustellen. Wo das Leben eben noch schön war, wird es | |
| beispielsweise durch die scheinbar harmlose Frage meiner Gastgeberin, ob | |
| ich ein Frühstücksei wünsche, innerhalb einer Sekunde zur Hölle auf Erden. | |
| Mein Blutdruck fällt unter null. Ich wünschte, ich wäre tot. Am liebsten | |
| würde ich gar nichts sagen, sondern bloß noch stumm vor mich hin starren. | |
| Aber da ich ja weiß, dass sie es nur gut meint, ringe ich mir am Ende | |
| irgendeine Antwort ab, die eh nicht meine ist. Kein Ei, ein Ei, keine | |
| Ahnung – ich höre mir selbst gar nicht zu, schließlich wird hier weder mein | |
| Beschluss noch meine Meinung verhandelt. Ich habe ja keine. | |
| Doch damit trage ich nur meiner fortschreitenden psychischen und physischen | |
| Destabilisierung Rechnung. Vor allem körperlich zeigt sich der unschätzbare | |
| Wert des Alterszauderns. Daran sollte immer denken, wer mal wieder einen | |
| Mann in der Andropause verspottet, der verzweifelt weint, weil er gefragt | |
| wurde, ob er ins Kino gehen oder zu Hause bleiben möchte. | |
| Denn der nachlassende Körper passt sich ganz von selbst seinen neuen | |
| motorischen Limits an. So bewegt man sich beim Fußball zunehmend mit der | |
| Dynamik einer Schachfigur; [2][man nutzt mit dem Rad im Stadtverkehr nicht | |
| mehr jede noch so kleine Lücke], weil sich die Reflexe mit der Zeit | |
| verschlechtern. Und alldem liegt eben keine bewusste Entscheidung zugrunde, | |
| sondern eine instinktive Entwicklung, die dem Selbstschutz dient. Die Natur | |
| ist eine Zauberin! | |
| ## Entwicklungsdefekt | |
| Denn es gibt ja umgekehrt jene Altersgenossen, die sich mit 50 zum ersten | |
| Mal im Leben auf ein Skateboard stellen, Adoleszente angraben oder nonstop | |
| ihr auf dem Stand von vorgestern basierendes Großcheckertum in die Welt | |
| quäken. Wo aber jener wertvolle Instinkt fehlt, der regelt, was man leisten | |
| kann, wo man besser reduziert oder ganz bleiben lässt, kann man – analog | |
| etwa zu Sechzehnjährigen, die noch aufs Töpfchen gehen – eindeutig von | |
| einem Entwicklungsdefekt sprechen. Ein solcher Mensch ist Gefahr und | |
| Ärgernis für sich und andere. | |
| „Selbstbewusstsein ist der Halt der Schwächlinge“, sagt mein Urologe | |
| Zbigniew immer. Und er hat ja so recht. Denn mit Selbstbewusstsein durchs | |
| Leben zu gehen ist schließlich keine Kunst. Wer stets zu wissen glaubt, was | |
| er will, tut und sagt, dem erscheint alles leicht. Doch ein Mensch ohne | |
| Zweifel ist mir persönlich suspekt. Das gilt in besonderem Maße für den | |
| Mann in der Andropause. | |
| 30 Nov 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Uli Hannemann | |
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