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# taz.de -- Altern und Verfallserscheinungen: Von Abscheu und Abschied
> Im Alter siegt die Bequemlichkeit. Das zeigt sich beim Regenschirm, der
> Platzreservierung im Zug oder der Sonnenbrille mit Gleitsicht.
Bild: Du siehst aus, wie ich mich fühle: Giraffenbulle im Zoo
„Alter essen Würde auf“, beschreibe ich auf Instagram ein Foto meiner
aktuellen Neuerwerbung: ein ambulant zusammensteckbares Campingstühlchen
mit Bierdosenhalter und, wie es aussieht, integrierter Windelfunktion, auf
dem ich nun sommers bequem sitzend auf den Badesee vor mir blicke.
„Bequemlichkeit essen Scham auf“, könnte man genauso sagen.
Dasselbe gilt grundsätzlich für den Regenschirm, die Platzreservierung im
Zug, die Sonnenbrille mit Gleitsicht. Noch weit über die üblichen Steh-,
Seh- und Gehhilfen hinaus wird in der Andropause externe
Unterstützungstechnik zur wichtigsten Waffe im verzweifelten Abwehrkampf
[1][gegen die nachlassenden Körperfunktionen] – meine persönliche
Kesselschlacht von Halbe, absehbar auch mit dem gleichen Ergebnis.
Ein Campingstuhlnazi. Ich. Mein ganzes bisheriges Leben lang habe ich
solche Menschen abgrundtief verachtet. Ich habe sie verspottet, aber auch
gefürchtet als Boten der Barbarei.
Solange Menschen ihre Möbel in die Natur schleppen, ohne obdachlos zu sein,
steht die Zivilisation auf ebenso wackeligen Beinchen wie ein Campingtisch
– davon war ich immer überzeugt.
## Eine ganz andere Welt
Und ein kleiner Teil von mir denkt das im Grunde immer noch. Ich bin ja ein
vergleichsweise frischgebackener Andropausenclown. Das Loslassen ist ein
schmerzhafter Prozess. Hinter mir ist die Ruine der Brücke zur Insel der
Jugend noch gut zu erkennen, obwohl sie unwiederbringlich abgerissen ist.
Ich kann mich noch immer mit den Augen der Jüngeren sehen, teile ihren
ungläubigen Blick, der erst von Abscheu und dann von Abschied kündet: Ein
Mensch, in diesem Fall ich, hat die Gesellschaft, zumindest ihre
Gesellschaft, für immer verlassen, um seine jahrzehntelange Sterbephase
einzuläuten. Er ist nun in einer ganz anderen Welt, flüstern sie einander
zu, eine Campingstuhlwelt, die wir nicht verstehen können. Wir kennen ihn
nicht mehr.
Aber wenn die wüssten! Denn von einem Badetuch komme ich einfach nicht mehr
schnell genug hoch, im schlimmsten Fall gar nicht. Vor wenigen Jahren hatte
ein ebenfalls älterer Giraffenbulle im Dortmunder Zoo beim vergeblichen
Versuch aufzustehen einen solchen Krampf bekommen, dass er in der Folge an
Kreislaufversagen einging.
Und was die Jungen oft nicht wissen: Meine Generation ist ja darauf
gedrillt, jederzeit unverzüglich hochzuschnellen – Stubenappell, ABC-Alarm
oder eine Dame, die den Raum betritt und der man die Hand küssen muss – das
ist eminent wichtig.
„Kommst du mit ins Wasser, Herr Hannemann“, fragt mein Urologe Zbigniew,
mit dem ich diesen schönen Spätsommertag hier am See verbringe.
„Ich komme“, antworte ich und wuchte mich aus dem Campingstuhl hoch. Selbst
das ist schon mühsam genug.
26 Aug 2020
## LINKS
[1] /Malaisen-alternder-Maenner/!5699503
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
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