| # taz.de -- Melancholischer Herbst: Abbaden mit Gefühl | |
| > Abbaden macht sentimental. Es neigen sich die Tage draußen nun einmal | |
| > mehr dem Ende zu. Der Sommer ist gegangen und hat wieder ein Jahr | |
| > mitgenommen. | |
| Bild: Die letzten Sonnenstrahlen am See | |
| Und wieder ist ein Jahr vorüber. Im goldgrünen Licht des Frühherbstes stehe | |
| ich bis zu den Knien im eiskalten Wasser des Kleinen Schnuffinchensees bei | |
| Drivenow. Heute ist es wieder so weit: abbaden. | |
| Im See tummeln sich vor allem Kinder und sehr alte Leute. Wer im Frühjahr | |
| oder Herbst ins kalte Wasser geht, ist entweder sehr alt oder sehr jung und | |
| offenbar schmerzfrei. Die einen haben noch den Krieg erlebt, die anderen | |
| wissen gar nicht, was Krieg ist. Beides scheint hier irgendwie von Vorteil. | |
| Ausgerechnet wir Kinder des Kalten Kriegs stehen zögernd am Rand herum. | |
| Ich bin in einem schwierigen Alter. [1][Zu Angst und Wut], Weinerlichkeit | |
| und Starrsinn kommt nun auch noch Temperaturempfindlichkeit hinzu. | |
| „Anstellerei“ hätte meine Mutter das genannt. Aber die ist ja auch ein | |
| Kriegskind. Apropos: Die Kinder hier sind bald so blau wie Schlümpfe. | |
| Manche müsste man mit einem Kran aus dem Wasser heben. Sie sind wie Wale: | |
| Freiwillig gehen die nicht an Land. | |
| Das Abbaden macht mich immer sentimental. Damit neigen sich auch unsere | |
| Tage hier draußen einmal mehr dem Ende zu. Die Datschensaison ist vorbei | |
| und wir machen alles winterfest; schneiden Hecken, packen Klamotten ein, | |
| schrauben Boiler ab, geben Frostschutzmittel ins Klo und legen die | |
| Gartenpumpe still. Vor März kommen wir nicht wieder. | |
| ## Ein schöner Winter | |
| So ein Jahr ist wie ein Leben: Geburt, Wachstum, Blüte, Verfall, Tod. Von | |
| jedem dieser Leben habe ich – an dieser Stelle rate ich einfach – | |
| vielleicht achtzig, neunzig, hundert Stück, die aber Jahr für Jahr weniger | |
| und dem Feeling nach zugleich auch in sich kürzer werden. So ein | |
| Andropausenjahr saust schneller an einem vorbei als früher so manche | |
| Schulstunde. | |
| Das lässt mich melancholisch werden. Der Sommer ist gegangen und hat wieder | |
| eines meiner kostbaren Jahre mitgerissen. Das ersetzt einem ja keiner. Was | |
| habe ich damit gemacht? Wieder nur Scheiße. Ich gehe nun bis zum Bauch | |
| hinein. Brrr. | |
| Wie oft noch ab-, wie oft noch anbaden? In absehbarer Zeit werden die | |
| Finger beider Hände ausreichen, um die verbleibenden Male abzuzählen. Dann | |
| wird mich die Wehmut schon beim Anbaden packen, und ich werde bereits im | |
| Frühling neben den Tränen der Kälte auch solche des Abschiedsschmerzes in | |
| den Augen haben. | |
| [2][Mein Urologe Zbigniew] sagt immer, „Nach dem Herbst kommt noch ein | |
| schöner Winter.“ Er hat gut reden, er kommt aus dem kalten Lublin. Aber | |
| eines Tages werde auch ich die Kälte nicht mehr spüren. Ich lasse mich lang | |
| ins Wasser fallen. | |
| 28 Sep 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Uli Hannemann | |
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