| # taz.de -- Schaustellerbranche in der Krise: Spenden statt Showtime | |
| > Eine Schaustellerfamilie sitzt mit 200 exotischen Tieren in Berlin fest. | |
| > Um nach Corona wieder auf Tour gehen zu können, hofft sie auf Spenden. | |
| Bild: Nikita und Ricardo Köllner mit ihrem Roten Teju, einer seltenen Eidechse… | |
| BERLIN taz | Wie ein kleines Fort stehen die Anhänger, Vans und Wohnwagen | |
| auf dem Schotterparkplatz beisammen. Von Metallzäunen mit großen Reklamen | |
| umsteckt, liegt das Areal hinter der alten Tribüne der Trabrennbahn | |
| Karlshorst. Ein Anhänger erlaubt durch eine Plexiglasscheibe den Blick auf | |
| eine hellgelbe Python und eine Boa constrictor. | |
| Plakate in knalligen Farben zeigen überlebensgroße Schlangen, Leguane und | |
| Krokodile. „Achtung, lebende Tiere“ warnt eins davon, „Welcome To The | |
| Jungle“ heißt es auf einem anderen. Stündlich soll es hier laut Reklame | |
| Liveshows mit exotischen Tieren geben. Die letzte Show ist mittlerweile | |
| schon Monate her. | |
| Seit Mitte Januar hat die sechsköpfige Schaustellerfamilie Köllner ihr | |
| Lager in Lichtenberg aufgeschlagen. So lange hält es sie normalerweise | |
| nicht an einem Ort: Alle zwei bis drei Wochen wechselt sie sonst die Stadt, | |
| um die Tierschau „Terratopia“ einem neuen Publikum vorzustellen. In einem | |
| 800 Quadratmeter großen Zelt können Besucher:innen sich dann | |
| Würgeschlangen um den Hals legen lassen oder Vogelspinnen streicheln. | |
| Gefährlich sei das aber nicht: „Wir wissen ja, welche Tiere wir dem | |
| Publikum zeigen können“, weiß Ricardo Köllner zu beruhigen. Der 33-Jährige | |
| hat nicht nur bei solchen Aussagen eine entwaffnende Art: Konstant suchen | |
| seine blauen Augen im Gespräch den Blickkontakt. In grauem Trainingsanzug | |
| führt er durch das Areal, das er mit seinen Brüdern, seiner Frau Nicole und | |
| der neunjährigen Tochter Nikita vorübergehend Zuhause nennt. | |
| ## Der Lockdown kostete finanzielle Reserven | |
| Die 200 wirbellosen Tiere und Reptilien sind aktuell in unscheinbaren | |
| grünen Anhängern untergebracht. In einem davon herrschen tropische | |
| Temperaturen. Ein schmaler Gang führt durch die wandhoch aufgestapelten | |
| Terrarien, es riecht nach Heu. Ricardo Köllner zufolge ist der Wagen für | |
| Menschen mit Phobien besonders gut geeignet: „Die würden sie hier schnell | |
| ablegen“, witzelt er. Vor den Tieren kann man sich schließlich schon mal | |
| erschrecken: Babykrokodile, Vogelspinnen und Skorpione reihen sich in den | |
| Terrarien aneinander. | |
| Wie die Tiere gehalten werden, stößt jedoch nicht überall auf Begeisterung: | |
| [1][Die Tierschutzpartei bezeichnet] die Haltungsbedingungen in der | |
| Wanderausstellung „Terratopia“ als nicht artgerecht. Viele der Terrarien | |
| seien zu klein; wirklich sicher seien die Shows mit Kaimanen und Pythons | |
| auch nicht. | |
| Ein Publikum konnten die Tiere jedenfalls schon länger nicht gefährden. Ein | |
| Jahr Corona bedeutete für die Schaustellerfamilie, dass kaum Shows möglich | |
| waren. Das kostete die finanziellen Reserven, sagt Ricardo Köllner. Als die | |
| Familie im vergangenen Herbst eine Vorstellung in Hamburg vorbereitet | |
| hatte, kam der Lockdown und überwarf die Pläne. Mit kaputtem Wohnwagen und | |
| ohne Geld für die Autoversicherung saß sie fest, berichtet der Zirkusmacher | |
| in achter Generation. | |
| Über einen Fernsehbeitrag im Hamburg Journal wurde der Unternehmer Andreas | |
| Räber auf die Situation aufmerksam. Aus Mitleid habe er sowohl | |
| Versicherungen als auch die Reparatur des Wohnwagens bezahlt. „Es hat mich | |
| sehr berührt“, berichtet er am Telefon. Seitdem habe er die Familie | |
| wöchentlich mit einer Spende für die Fixkosten unterstützt. Ab April könne | |
| er das aber nicht mehr machen – über 25.000 Euro seien mittlerweile bereits | |
| zusammengekommen. | |
| ## Fehlende staatliche Hilfen | |
| Die prekäre Lage der Familie liege auch daran, dass keine staatliche | |
| Unterstützung bei ihr ankam, erzählt Nicole Köllner. Sowohl November- und | |
| Dezemberhilfen, als auch Überbrückungs- und Soforthilfen seien abgelehnt | |
| worden: Zum einen, weil das reisende Unternehmen keinen festen Firmensitz | |
| hat, zum anderen weil die Familienmitglieder keine Arbeitsverträge | |
| untereinander abgeschlossen haben. | |
| In vielen kleineren Schaustellerbetrieben würden diese Kriterien nicht | |
| erfüllt, sagt Ralf Huppertz, Vorsitzender des Verbands deutscher | |
| Circusunternehmen. Während sich die Lage für größere Kompanien durch die | |
| Hilfspakete etwas entspannt habe, sei es für die kleineren schwierig, | |
| überhaupt an Hilfen zu kommen. Häufig fehle es etwa an Dokumenten, um | |
| Umsätze präzise nachzuweisen. | |
| Es bleibe zwar der Anspruch auf Grundsicherung, erklärt er am Telefon. Bei | |
| den Ämtern gebe es allerdings häufig Schwierigkeiten: „Die Jobcenter sind | |
| teilweise sehr diskriminierend. Häufig scheinen sie einem vermitteln zu | |
| wollen, dass man gefälligst kein reisendes Volk mehr zu sein hat.“ Nicht | |
| selten würde dazu geraten, Tiere oder Fahrzeuge zu verkaufen. Die Grundlage | |
| ihres Geschäfts abzugeben, käme aber für die wenigsten | |
| Schausteller:innen infrage, betont Huppertz. | |
| Die Erfahrung mit den Berliner Sozialämtern sei auch für seine Familie | |
| schwierig, sagt Ricardo Köllner: „Obwohl wir zusammenleben, müssen meine | |
| Frau, mein Bruder und ich alle zu verschiedenen Ämtern: nach Neukölln, | |
| Kreuzberg und Lichtenberg.“ Weil die Familie offiziell als obdachlos | |
| gezählt wird, würde sie je nach Geburtsdatum auf die Ämter aufgeteilt, | |
| erklärt er. Auch die Forderung vom Amt, einen neuen Job anzunehmen, hält | |
| Nicole Köllner für schwer umsetzbar: „Mich um die Tiere und meine Tochter | |
| zu kümmern, ist ein Vollzeitjob.“ Auf Geld warte sie bislang vergeblich. | |
| ## Spenden als Überbrückungshilfe | |
| Das Gespräch hat sich mittlerweile vom Hof in einen der Wohnwagen | |
| verlagert. Erst Regen, dann Hagel prasselt auf das Wohnwagendach. Ricardo | |
| Köllner eilt nach draußen, um zu verhindern, dass die Zäune mit den | |
| Reklamen vom Wind davon geblasen werden. | |
| Nicole Köllner bleibt sitzen und erklärt mit verschränkten Armen, dass ihre | |
| Existenz aktuell von Spenden abhänge. „Dass wir jetzt um Hilfe bitten | |
| müssen, ist uns wirklich unangenehm.“ An ihrem Camp neben der Trabrennbahn | |
| haben die Köllners daher eine Spendendose aufgehängt, [2][außerdem sammelt | |
| ein Crowdfunding] für die Familie. | |
| Dass vor allem kleinere Zirkusbetriebe gerade von Spenden abhängig sind, | |
| kann Zirkusvertreter Huppertz bestätigen. An branchenweite Pleiten glaubt | |
| er aber nicht: „Ich denke, dass ein Großteil der Unternehmen da schon | |
| irgendwie durchkommen wird. Sie sind zwar auf Hilfen aus der Bevölkerung | |
| angewiesen, haben aber auch kein Problem, danach zu fragen.“ | |
| Als sich der Sturm verzieht und der Himmel wieder aufklärt, steht Ricardo | |
| Köllner vor der Schauvitrine und erzählt einer Familie mit Kind von den | |
| Würgeschlangen. Auch wenn ungewiss bleibt, wann sie ihr Reptilienzelt | |
| wieder aufschlagen können – ihre Reklamen hängen die Köllners so schnell | |
| nicht ab. | |
| 30 Mar 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.tierschutzpartei.de/tierschutzpartei-sieht-kritische-haltungsbe… | |
| [2] https://www.betterplace.me/hilfe-fuer-terratopia-wegen-zwei-lockdown | |
| ## AUTOREN | |
| Oscar Fuchs | |
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