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# taz.de -- Corona und die Selbstständigen: Sozialstaat für die Mittelschicht
> Die Coronamaßnahmen offenbaren die wirtschaftliche Verwundbarkeit vieler
> Selbstständiger. Das wirft mit Blick auf 2021 neue Gerechtigkeitsfragen
> auf.
Bild: Besonders im Kulturbereich sind Selbstständige mit einem faktischen Beru…
Wenn die Linkspartei einen staatlichen „Unternehmerlohn“ fordert, aus
Steuermitteln, die auch ArbeitnehmerInnen aufbringen müssten, dann spürt
man, dass sich etwas verändert hat bei den politischen Maßstäben. Der
Unternehmer, der Selbstständige als schützenswertes Objekt, das ist neu.
[1][Wer stark ist und wer schwach, das ist in Zeiten der Coronapandemie
nicht mehr so leicht zu bestimmen].
Die wirtschaftliche Verwundbarkeit von Selbstständigen, viele davon in der
privaten Dienstleistung, zeigt sich wie nie zuvor. Selbstständige in
Dienstleistungbranchen, besonders im Kulturbereich, sind durch den
Teillockdown bis in den Januar hinein [2][mit einem faktischen
Berufsverbot] belegt oder leiden indirekt unter den Kontaktbeschränkungen.
Der Staat will ausgleichen: Mehr als 30 Milliarden Euro an Steuermitteln
wird es im November und im Dezember als sogenannte „Novemberhilfen“ der
Bundesregierung für Unternehmen und Soloselbstständige geben. Damit sollen
Umsatzausfälle kompensiert werden. Zum Vergleich: Die Kosten für
Hartz-IV-Leistungen belaufen sich auf rund 34 Milliarden Euro. Im Jahr.
Die „Novemberhilfen“ sollen zum Jahresende auslaufen, und danach soll es
die „Überbrückungshilfen“ geben, die sich aber wieder nur an den Fixkosten
der Betriebe, nicht am Umsatzausfall, orientieren. Die Chancen stehen
inzwischen schlecht für den „Unternehmerlohn“, den Linke und Grüne für d…
Lebensunterhalt gebeutelter Soloselbstständiger fordern.
Dass Selbstständige als Opfergruppe so deutlich in Erscheinung treten, ist
eine Verschiebung auch in der soziokulturellen Schichtenbildung der
Mittelschichtmilieus. Dort ordnete man den „Selbstständigenstatus“ nicht in
eine Kategorie der Schwachen ein. Wer sein eigenes Unternehmen führt und
die damit verbundene Bürokratie bewältigt, dem oder der schreibt man ein
hohes Maß an Autonomie zu.
Die Gruppe der Selbstständigen und deren Einkommen war allerdings immer
höchst heterogen. Es ist ein Unterschied, ob ich eine Arztpraxis führe,
Betreiberin eines Kosmetikstudios, KneipenwirtIn oder Essensausfahrer bin.
[3][Corona verstärkt die Unterschiede]. Es machen Geschichten von Bau- oder
Software-UnternehmerInnen die Runde, denen es blendend geht in
Coronazeiten, während der geschlossene Stammitaliener oder die arbeitslos
gewordene Fitnesstrainerin bemitleidet werden.
## Lonely Wolf des Sozialstaats
Selbstständige eint aber eines: Sie hatten bisher eher wenig mit dem
Sozialstaat zu tun. Der oder die Selbstständige ist der Lonely Wolf des
Sozialstaats. Selbstständige zahlen nicht in die Sozialkassen ein und
bekommen kein Kurzarbeitergeld, kein Arbeitslosengeld, keine gesetzliche
Rente. Typisch für die Soziokultur der Selbstständigen sind die Klagen über
die hohe Steuerlast, das Wissen über die Steuergestaltung, über die
„Steuertricks“. Selbstständige bekommen ihre Bruttoeinnahmen erst einmal
auf das Konto und müssen dann erst davon Steuern abführen und eine teure
Krankenversicherung zahlen. Das schmerzt mehr, als wenn man als Angestellte
auf dem Konto immer nur das Netto sieht.
Die neue Rolle der Selbstständigen als vulnerable Gruppe verstärkt die
Labilität in den Mittelschichtmilieus. Diese Labilität hat ohnehin schon
zugenommen, denn die Globalisierung vervielfältig die Maßstäbe. Gegenüber
dem stündlichen Einkommen von Amazon-Chef Jeff Bezos (10 Millionen Euro)
schafft es ein Wirtschaftsanwalt in Stuttgart mit Einfamilienhaus und ein
paar Hunderttausend Euro im Depot, sich als irgendwie benachteiligt zu
fühlen. Einerseits.
Andererseits aber ist die globale Armut durch die Fluchtmigration auch in
deutschen Metropolen sichtbarer geworden. Wer Flüchtlingsheime von innen
kennt, wähnt sich mit seiner bezahlbaren Balkonwohnung und einem
Durchschnittseinkommen als GrundschullehrerIn schon an der wohlhabenden
Weltspitze.
## Wahlkampf 2021 wirft schon Schatten
Die labile Stimmung in den Mittelschichtmilieus stellt die Parteien im
Bundestagswahlkampf 2021 vor Probleme. Was kann man wem abverlangen?
Wirtschaftsminister Peter Altmaier, CDU, hat Steuererhöhungen auf Vermögen
und für Unternehmen in Coronazeiten gerade erst wieder abgelehnt. Es ist
aber fahrlässig, wenn sich Parteien den Weg zu höheren Steuern und Abgaben
verbauen. Genauso fahrlässig ist es, die Abgabenbereitschaft in den
Mittelschichten zu unterminieren.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund wirft Bundesgesundheitsminister Jens Spahn
(CDU) vor, durch neue Gesetze die „Beitragstöpfe“ der Mitglieder der
gesetzlichen Krankenversicherungen zu „plündern“. Es bringt aber nichts,
wenn man wie der Gewerkschaftsbund nur nach irgendwelchen imaginären
Steuermitteln des Staats schreit, ohne deren Herkunft genauer zu
spezifizieren.
Saskia Esken, SPD, fordert Abgaben nur von den „sehr, sehr hohen Vermögen“.
Es würde aber nicht funktionieren und nicht genügen, einfach nur den
„Superreichen“ in Deutschland viel Geld wegzunehmen, als säßen sie auf
einem Geldberg wie Dagobert Duck, den man nur nach und nach abtragen
müsste. Höhere Besitzsteuern sind angebracht, aber in großem Stil kann man
nur umverteilen durch die Belastung von Vermögen und laufenden Einkommen
bis in die Mittelschichten hinein. Das ist unpopulär.
Womöglich hat aber trotzdem im Wahlkampf 2021 eine Partei gute Chancen, die
solche Verteilungsprozesse glaubwürdig moderiert und dabei weder
Abstiegsängste befeuert noch falsche Versprechungen macht. Eine Partei, die
einen Konsens herstellen kann über die Verteilung von Abgaben und
Zumutungen, dabei auch mal unbequem und vielleicht deswegen glaubwürdig ist
auch für die labilen Mittelschichtmilieus. Wie ehrlich und wie mutig die
Parteien sein werden – das ist die spannende Frage für 2021.
7 Dec 2020
## LINKS
[1] /Auswirkungen-der-Coronakrise/!5730001
[2] /Coronahilfen-fuer-Selbstaendige/!5731975
[3] /Corona-und-die-Berliner-Restaurants/!5727325
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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