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# taz.de -- Advent am Berliner Breitscheidplatz: Masken ab nur zum Verzehr
> Es ist ein klitzekleiner Keinweihnachtsmarkt: Er ist da und er ist nicht
> da. Eine Stippvisite zum Glühweintrinken auf dem Breitscheidplatz.
Bild: Trinken ja, aber nicht am Stehtisch: Weihnachtszauber am Breitscheidplatz
„Frohe Weihnachten wünscht die Gröner Group“: Vor dem KaDeWe verkündet d…
fromme Firma „mit den Schwerpunkten Quartiersentwicklung und
Revitalisierung historischer Bausubstanz“ in weihnachtlicher Leuchtschrift
ihre Frohbotschaft: „Friede den Palästen“. Dieser atemberaubende Quickie
des Christfests mit dem Kapitalismus zeigt mir, dass ich fast am Ziel bin:
dem Breitscheidplatz, traditionellem Standort eines der größten und
hässlichsten Weihnachtsmärkte Berlins.
Doch in diesem Jahr ist hier kein Weihnachtsmarkt. Oder besser gesagt: An
dieser Stelle befindet sich seit Anfang Dezember der klitzekleine
Keinweihnachtsmarkt. Er ist da und er ist nicht da, er lebt nicht und er
ist nicht tot; mit verwesendem Antlitz hat er sich über Nacht aus seinem
Grab aus Vorschriften und Verboten gewühlt: ein Zombie-Weihnachtsmarkt. Vor
den in hygienischen Abständen voneinander errichteten insgesamt acht Buden
warten in wiederum hygienisch vorbildlicher Reihe die Kundinnen und Kunden.
Auf diese Lösung, einen Glöggdown light, vermochte sich die
Charlottenburger Politik in letzter Sekunde zu einigen. So zieht in einer
Glühweinbude ein Mitarbeiter mit dem Akkuschrauber noch die letzten
Schutzscheiben aus Plexiglas fest, während die Kollegen bereits
Heißgetränke aus vermutlich purem Gold ausschenken: 4 Euro für einen
winzigen Pappbecher! Man feiert hier wohl nicht nur die Geburt des
Christkinds, sondern auch noch die der gesegneten Vollmeise. Scheißwesten.
Für einige ist es offenbar von größter Bedeutung, dass an einem Trugbild
der Normalität festgehalten wird, wo es keine Normalität gibt und auch
keine möglich ist. Besonders die Berliner FDP gefiel sich als treibende
Kraft bei dem Versuch, die Gastronomie, das Geschäft, ja, ganz allgemein
das „Weihnachtsgefühl“ (Erektionen und Clitboner beim Anblick eines
Tannenbaums?) in der City West vor den Coronamaßnahmen zu retten. Die
Weihnachtsbeleuchtung gerade am Ku’damm sei immer „eines der Highlights“
gewesen, barmte FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja.
Czaja! Was ist das bitte für 1 life? Vor meinem inneren Auge entfaltet sich
ein Leben wie ein Tischfeuerwerk. So aufregend, so strahlend, so schön.
Wenn ich groß bin, werd ich auch FDP. Die verstehen, sich zu amüsieren.
Trotzdem muss es natürlich Regeln geben: Masken ab nur zum Verzehr,
Abstände, eh klar, sowie „alles nur zum Mitnehmen“, wie die Presse im
Vorfeld ausgiebig betonte: „Die Besucher dürfen nicht vor der Bude in
Gruppen Glühwein trinken.“
Neben der Frage, die man sich in dieser tristen Jahreszeit ohnehin zu allem
stellen möchte, nämlich, was das dann überhaupt noch für einen Sinn habe,
kurbelt ein solches Partyparadox die Fantasie an. Wie soll das denn bitte
in der Praxis aussehen?
## Graugesichtige Geststalten
Der Film dazu in meinem Kopf sah etwa so aus: Graugesichtige Gestalten
huschen im Schutze der Dunkelheit gebückt an die Ausgabeschalter der
Glühweinstände. Zerknitterte Geldscheine hier und zuckersüßer Sprit dort
wechseln heimlich die Besitzer. Schnitt. In zugigen Hauseingängen um den
Breitscheidplatz herum setzen sich die Käufer einen schnellen Schuss (Rum
oder Amaretto). Es ist alles so entwürdigend. Das sind doch Menschen! Lasst
sie einander wenigstens zuprosten!
Ganz so schlimm ist es dann zum Glück jedoch nicht. Mittig zwischen drei
Buden befinden sich Elektrikkästen in wundersam exakter Stehtischhöhe,
kicher, es ist doch wirklich unglaublich, wie erfinderisch der Mensch wird,
sobald er in echt schlimme Not gerät. Also zum Beispiel, wenn er während
einer verheerenden Pandemie an der Glühweinbude kein Stehtischchen
vorfindet.
Während die normalen Saufstände ihre Verweilbereiche abgesperrt haben,
verfügt eine Bude, die auch Tellergerichte anbietet, noch über seitliche
Tresenbretter. Und sofort haben sich zwei ältere Zecher mit Jägermeister
und Bier eingenistet. Der findige Frontstädter, abgehärtet durch Weltkrieg,
Luftbrücke und Mauerbau, improvisiert auf diesem Weihnachtsmarkt, der
keiner ist, mal eben schnell seine eigene Eckkneipe, das Virus-Stübl. Aber
dennoch hat sich Bolle janz köstlich infiziert...
## Glühwein kostet Tote
Viel los ist nicht. Ich kaufe einen Glühwein – man muss die Gastronomie
jetzt unterstützen, und es ist ja immerhin schon dunkel (okay, es ist
sowieso den ganzen Tag lang duster). Am ärmsten dran sind wie immer und
überall diejenigen Händler, die keinen Alkohol verkaufen. Dort steht
natürlich niemand an. Aber dafür kann sich da auch keiner anstecken.
Doch was ist, wenn sich der klandestine Keinweihnachtsmarkt herumspricht
und dann am Wochenende doch die Leute in dichten Trauben glühweinselig um
die Stände herumstehen, die Masken, der Dauerverzehrbereitschaft
geschuldet, gleich Lametta von den Ohren hängend. Dann wird, wie
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach prognostiziert, der Glühwein Tote
kosten. Das hat er zwar naturgemäß schon immer getan, aber noch nie so
viele.
Das wirft dann rundum schon die Frage auf: Muss das Besinnlichkeitstheater
wirklich in jeder Lebenslage ritualhaft durchgezogen werden? Schließlich
ergeben sich nicht nur unnötige Gefahren für die Gesundheit, auch die
Aussteller klagen; die meisten haben angesichts des Hin und Her im Vorfeld
ohnehin von vornherein auf das Risiko verzichtet. Das Geschäft ist mies.
Die Leute sind down. Der Advent ist krank. Weihnachten ist tot. Cui also
fucking bono?
„You can’t always get what you want“, sangen schon die Rolling Stones.
Spöttischer werden sie auf der weitgehend unbekannten C-Seite derselben
Single: „Wash my fur but don’t get me wet.“ Soll sinngemäß heißen: Man…
wäre weniger mehr und ein kompletter Verzicht durchaus angebracht. Und was
sagt der Weihnachtsmann dazu? Ich glaube kaum, dass er der Menschheit
ernsthaft zürnen würde. Im Gegenteil, vielleicht würde er im eigenen
Interesse sogar sagen, „Loidls, macht jetzt mal ein Jahr halblang, dann
könnt ihr nächstes Weihnachten in hoffentlich umso kompletterer
Kompaniestärke wieder Wurst- und Weinabfälle in den U-Bahn-Eingang göbeln.“
Ein tröstlicher Gedanke.
9 Dec 2020
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Schwerpunkt Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt
Weihnachtsmärkte
Glühwein
Kolumne Berlin viral
Schwerpunkt Coronavirus
Freiberufler
Friedrichstraße
Lesestück Recherche und Reportage
Verdi
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