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# taz.de -- Kunst im öffentlichen Raum in Oslo: Störsignal in der Stadtratssi…
> Am Friedensplatz hängt eine ausgemusterte Glocke aus dem Carillon des
> Rathauses. Installiert durch die Künstlerin A K Dolven lädt sie zum Spiel
> ein.
Bild: Mit einem „Cry-Baby“-Pedal lässt sich die „Untuned Bell“ von A K…
Erwecken alte Objekte nicht manchmal den Eindruck, als hätten sie über
Jahre die Gedanken, Hoffnungen und Schrecken derer an sich gebunden, die
sie benutzt, betrachtet oder belauscht haben? Ganz so, als seien sie eine
Art Magnet. Die norwegische Künstlerin A K Dolven arbeitet mit den
immateriellen Energien solcher Objekte, die sie in vielschichtiger Form in
öffentlichen und persönlichen Erlebnisräumen bündelt.
Sie tut dies mit einer emotionalen Subtilität, die der Betrachterin weder
gefühlsduselig noch besserwisserisch vorschreibt, was sie empfinden soll.
Vielmehr setzt die Künstlerin mit kühlen, unaufdringlichen Denkangeboten
auf das aktive Mitwirken ihres Publikums.
Dolven arbeitet gern mit flüchtigen, teils unsichtbaren Materialien, wie
etwa Schnee, Licht, Schatten, Klang, der menschlichen Stimme. Oder wie nun
in [1][„Untuned Bell 2010–2020“] mit dem Ton einer ausgemusterten Glocke.
Das über fünfzig Jahre alte Instrument stammt aus dem Carillon des Osloer
Rathauses, wo während der Vorbereitungen zur Millenniumsfeier entschieden
wurde, dass es nicht zu den übrigen 48 passt.
Die Glocke galt fortan als Altmetall, bis A K Dolven sie in einer Gießerei
entdeckte und ihr abgelehntes Nichtperfektsein zur künstlerischen Botschaft
machte. In einer gedichtartigen Notiz schrieb sie vor zehn Jahren, als sie
mit einer temporären Vorgängerarbeit zu ihrem jetzigen Werk beschäftigt
war: „Your sound is good / your sound is good too / I want your sound / I
want your sound too / We need you / we need you too.“
## 1,4 Tonnen in 20 Meter Höhe
Als ich die Soundskulptur in Oslos kleinem Yachthafen suche, wird mein
Blick gekreuzt von senkrechten Linien, Diagonalen und Flächen. Alles ist in
Bewegung, schwankt und dreht sich im Wind. Ein Heulen geht durch die
Takelagen der Segelboote, die hier ankern.
Dann erst bemerke ich inmitten der wippenden Formen etwas Stabiles,
Elegantes: zwei rostrote Stahlpfeiler, zwischen ihnen ein Stahlseil und
daran die Glocke. Fast wie ein Schmuckstück schwebt sie als 1,4 Tonnen
schwerer Solitär in 20 Meter Höhe über der Honnørbrygga, nahe dem
Nobel-Friedenszentrum.
Hier betrat der in England exilierte König Hakoon 1945 erstmals wieder
[2][das von den Faschisten befreite Norwegen]. Im Boden ist diskret das
königliche Wappen eingelegt, das an diesem Morgen einmal kurz vom Schatten
der Glocke gestreift wird. Sie hängt natürlich hoch genug, um nicht berührt
zu werden, und doch wirkt es, als sei sie direkt greifbar. Das Gefühl der
Nähe ist gewünscht, denn A K Dolven lädt ein breites Publikum zum Spiel mit
der Glocke ein.
Neben einem der Stahlpfeiler ist ein „Cry Baby“-Pedal angebracht, ein
Readymade aus der Rockgeschichte. Presst man es mit dem Fuß herunter,
schlägt der Hammer kaum merklich an den Glockenkörper und der verstimmt
geglaubte Ton erklingt prägnant und rund. Er schafft sich Raum im
akustischen Trubel der Umgebung und konzentriert die Performenden, die oft
dem langen Nachhall hinterherlauschen, bis zum Schluss. Im Idealfall
schwingen ihre Gedanken mit und erzeugen eine ganz eigene Komposition.
Das wäre dann der Augenblick, der A K Dolven wichtig ist. Wenn der Takt des
Alltags für kurze Zeit ersetzt wird durch ein akutes, frisches
Jetzt-Gefühl, das basierend auf Vergangenem ein Gefühl für Möglichkeiten
weckt, die in der Zukunft liegen. Der Ästhetiktheoretiker Lutz Koepnick hat
für diesen produktiven Zustand den Begriff der „Slowness“ gefunden und
sieht in ihm die Voraussetzung für eine mündige, reflektierte
Zeitgenossenschaft.
Die Freude der AkteurInnen am Niederpressen des Pedals ist unaufgeregt und
nach außen gerichtet. Sie drückt sich aus in dem Impuls, mit völlig
unbekannten ZeugInnen der Szene ein paar Worte zu wechseln. Oft kommt man
schnell vom Privaten zur Politik, weswegen mich diese Dynamik auch [3][an
Hannah Arendts] Satz vom Gespräch als kleinster Einheit des öffentlichen
Lebens erinnert. Das selbstbewusste Individuum, das freundlich und
zugewandt im Stadtraum agiert, ist ein schöner Anblick.
## Produktiv-demokratisches Potenzial eines Kunstwerks
Hierzu passt es, dass Bürgermeisterin Marianne Borgen stolz auf das
produktiv-demokratische Potenzial des Kunstwerks hinweist, das nach
sechsjähriger Arbeit der Kuratorin Kristine Pilgaard von der städtischen
Kunstsammlung und von KORO (Kunst im öffentlichen Raum) erworben wurde.
Mit Sicht auf die „Untuned Bell“ steht Frau Borgen im imposanten Festsaal
des Rathauses. Dort, wo unter Mosaiken im Stil des magischen Realismus der
Friedensnobelpreis übergeben wird, stellt sich die Hausherrin lachend vor,
wie nun jede PassantIn ein Störsignal in die Stadtratssitzungen senden
kann: „Hey, ihr da, uns gibt es auch noch!“
Ihr Haus kann dieses neue, unangestrengt vielschichtige Werk gut
gebrauchen. Von der bombastischen, fast totalitär wirkenden Kunst am Bau,
die zwischen 1931 und 1950 hier entstand, wendet sich A K Dolvens Arbeit so
entschieden ab wie Rolf Wallins Komposition, die das Carillon während der
Eröffnungsfeier mit der verstoßenen „Untuned Bell“ zusammenbrachte.
Ein abstrakter, sich langsam entfaltender Klangschleier mischte sich
unaufdringlich unter die Töne der Stadt und ließ kurzzeitig die nationalen
Volksweisen vergessen, die man sonst von diesem Glockenturm aus hört.
6 Jan 2021
## LINKS
[1] /Archiv-Suche/!248789&s=A+K+Dolven&SuchRahmen=Print/
[2] /Norwegen-im-Nationalsozialismus/!5739771
[3] /Hannah-Arendts-Band-Wir-Juden/!5660578
## AUTOREN
Gaby Hartel
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Kunst und Abstraktion
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Schwerpunkt Coronavirus
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