# taz.de -- Reisen war und bleibt gefährlich: Vergesst Venedig! | |
> Corona ist auch ein Warnschuss für die Reisesüchtigen unter uns. Zu Hause | |
> bleiben schont nicht nur die Nerven, es ist auch gesünder. | |
Bild: Überfluteter Markusplatz: Reisen war und bleibt gefährlich – bleibt z… | |
Corona kam gerade noch rechtzeitig, nicht wahr? Bis dahin seid ihr durch | |
die Welt gedüst, getippelt und gestrampelt wie alle anderen auch. 120 | |
Kilometer Stau am Kamener Kreuz, drei Stunden Wartezeit auf den ICE und auf | |
[1][Mallorca] deutet sich ein Streik des Bodenpersonals an – Peanuts! | |
Nichts konnte euch abhalten. | |
Aber wolltet ihr das wirklich: „Waldbrände in Kalifornien – alle Urlauber | |
evakuiert. Fährunglück vor Ko Samui – Urlauber sitzen fest. | |
Lebensmittelvergiftung auf der Southern Princess – Urlauber kotzen um die | |
Wette“ – mal ehrlich: Passte das nicht viel besser in die „Tagesschau“ … | |
in euer wirkliches Leben? | |
Doch ihr habt alle Warnungen ignoriert. Seid durch Sümpfe gestapft, habt | |
auf welligen Käsebroten herumgekaut und halb kriminelle Taxifahrer | |
alimentiert. Warum nur, warum wart ihr unermüdlich dabei? Was, glaubtet | |
ihr, hätte die Welt, was Marzahn, Lindenberg und Bergedorf nicht böten? | |
Das Abenteuer hättet ihr gesucht? Die Essenz menschlicher Existenz, den | |
nackten Kampf ums Dasein. Wie – noch nie bei Aldi das Band vollgepackt und | |
dann lag das Portemonnaie zu Hause? | |
Atemberaubenden kulinarischen Herausforderungen wolltet ihr euch stellen? | |
Weshalb nicht das XXXL-Jägerschnitzel im Gildestübchen? Fremde | |
Gesellschaften mit bizarren Riten erkunden? Hätte es nicht der nächste | |
Golfclub auch getan? Nein, es war mehr, sagt ihr. | |
## Unerträglich, dieses endlose Gesülze | |
Vor den Kolleginnen und Kollegen, die verreisten, hättet ihr euch nicht | |
blamieren wollen. Diese unsagbar türkisgrünen Buchten, die unaufessbaren | |
Berge von Scampi und jene unglaublich umwerfenden Discojungs auf | |
Fuerteventura, von denen sie schwärmten – all dies endlose Gesülze, und | |
ihr, unvorstellbar, hättet da nichts beizusteuern gehabt? | |
Dabei ahntet ihr doch schon damals die Wahrheit: Alle Urlauber lügen. Alle | |
protzen. Alle saufen sich ihre drei schrecklichen Wochen schön. Und selbst | |
wenn – wie hätten derlei Lappalien mithalten können mit der Knollenpracht, | |
mit der Balkonradieschen den Daheimgebliebenen ihre sommerliche Anwesenheit | |
danken? | |
Ihr wusstet das. Aber ihr habt alle Warnungen in den Wind geschlagen. Ihr | |
habt gesucht. Und habt gebucht. Wieder und wieder habt ihr euch als | |
beratungsresistent erwiesen. Zur Selbstqual scheint ihr geboren, zum Leiden | |
gemacht. Welch ein alljährlich wiederkehrender Jammer das war. | |
Doch damit hat es jetzt ein Ende. Endlich dürft ihr bekennen, unumwunden | |
und endlos erleichtert: Die Welt an sich ist schlecht. Die Welt da draußen | |
aber, in der Reisende sich tummeln, ist ein roher Dschungel, ein Jammertal, | |
ein Ort vielfältigster Fähr- und Kümmernisse. Die Zahl der Schrecken ist | |
Legion, ihre Namen sind: Bangkok, Kiew, Papenburg, Antananarivo, Sankt | |
Moritz … – und es hat und hat kein Ende. Sicher, schon bald werden wieder | |
jene Stimmen ertönen, die beredt davon schwätzen, wie erhebend es doch sei, | |
dass man endlich wieder unbeschwert wegfahren, -fliegen und -wandern dürfe. | |
Und wie sehr man das alles vermisst habe. | |
## Bleibt zu Hause. | |
Ohren zu. Hört nicht auf sie. Seid gütig zu euch selbst und bleibt zu | |
Hause. Wegfahren ist nix für euch. Reisen macht einsam und verstört – schon | |
vergessen? | |
Amerikanisches Frühstück, französische Schalterbeamte und deutsche | |
SUV-Fahrer – das ist die Fratze, mit der die Welt dem Reisenden | |
gegenübertritt. Hautkrebs liegt in der Luft und Heimweh zieht durchs Gemüt. | |
Den Untergang auf Raten erlebt ihr unterwegs, nichts anderes. Denkt daran: | |
Die [2][Tage der Befreiung] sind da. Nie mehr müsst ihr hinaus in dieses | |
feindliche Leben. Die Schlammbrühe vor [3][Lloret de Mar], die | |
orthopädischen Praxen von Kitzbühel, die Kuttelsuppen von Sindelfingen und | |
die viel zu heißen Quellen auf Island, sie sehen euch nie wieder. | |
Lehnt euch zurück, pflegt eure Bienenstöcke, jätet die Salatbeete, und | |
sollte euch wirklich noch etwas fehlen, schaltet „mare TV“ an. Bleibt hart. | |
Vergesst Venedig. Lasst Lhasa liegen. Andorra aus den Augen, Sacramento aus | |
dem Sinn. Auch wenn es wieder möglich werden sollte – verreist nicht! | |
Reisen war und bleibt gefährlich. Es könnte euren Horizont erweitern. | |
4 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Franz Lerchenmüller | |
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