# taz.de -- An der Westküste Kanadas: Menschen aus der Muschel | |
> Unser Autor hat Geschichten vom Reisen gesammelt. Jetzt helfen sie, damit | |
> wir nicht vergessen, warum wir gereist sind. Und wieder reisen werden. | |
Bild: Typische Haida Kunst im Museum in Skidegate, Kanada | |
Mein Vater liebte es, zu verreisen. Von jeder Tour brachte er ein volles | |
Notizbuch mit nach Hause. „Geistige Notration für schlechte Zeiten“, | |
erklärte er, und wir Kinder schüttelten den Kopf. Als er alt wurde, saß er | |
Tag für Tag an seinem Schreibtisch, studierte seine Aufzeichnungen und | |
durchlebte glücklich jede Fahrt ein zweites Mal. Auch heute herrschen | |
ungute Zeiten in Sachen Reisen. Doch auch ich habe über die Jahre | |
Notrationen gesammelt. Und ich teile sie gern. Damit wir nicht vergessen, | |
warum wir gereist sind. Und wieder reisen werden. | |
„17 Totempfähle ragen aus dem Gras hervor, manche fünf, sechs Meter hoch | |
mit gut erkennbaren Schnitzereien, andere nur noch verwitterte Stumpen, und | |
alle sind sie über 100 Jahre alt. Aufgereiht wie Telefonmasten bildeten sie | |
einst das Gesicht des Dorfes. Anhand der Figuren darauf – Adler, Orcas, | |
Grizzlys – konnte jeder Besucher beim Näherkommen erkennen, welches der | |
Häuser seinem Clan, den Adlern oder den Raben, nahestand. In fünf | |
verlassenen Gemeinden im Süden von Haida Gwaii stehen solche Pfähle in | |
unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Denn die Haida beschlossen, dass | |
keiner restauriert werden darf. | |
Haida Gwaii, „Inseln der Menschen“, das sind an die 400 Inseln im Pazifik | |
vor der [1][Westküste Kanadas]. Darauf leben 4.800 Menschen, von denen etwa | |
die Hälfte Haida sind, Ureinwohner, eine der First Nations Kanadas. | |
Eine Bootsfahrt zwischen den Inseln, die auch „Galapagos des Nordens“ | |
genannt werden, der unterschiedlichen Pflanzen und Tiere wegen, erweist | |
sich als Wundertüte, aus der täglich neue Überraschungen purzeln. | |
[2][Weißkopfseeadler sitzen manchmal] im halben Dutzend in Bäumen am Ufer. | |
Geysire dampfen überm Meer, gefolgt von den schwarz glänzenden, auf- und | |
niedergehenden Halbmonden der dazugehörigen Buckelwale. Von einem Felsen | |
dringt ein Grunzen, Röhren und Bellen herüber, als hätte eine Herde Schafe | |
die Nacht davor heftig durchgezecht. Schimmernde Speckrollen robben sich | |
behände die Felsplatten hoch, rangeln, quengeln, schrubben sich am Fels und | |
aneinander. Die Steller’schen Seelöwen haben erst vor ein paar Wochen | |
geworfen, der Fels ist wie übersät von propperen, hellbraunen Maden. | |
## Die Geschichte vom Raben | |
Höhepunkte dieser Tage aber sind die Ausflüge an Land zu den Überresten der | |
Dörfer. Die Natur hat einen dicken, grünen Teppich über eingestürzte | |
Trägerbalken und Dachsparren gebreitet, Moos überzieht auch die ein Meter | |
tief in die Erde gegrabenen Wohnräume der Langhäuser, von denen manche so | |
groß waren wie Turnhallen. Und rundum kämpfen Zedern, Douglasien, | |
Edeltannen und Zuckerkiefern um Raum und Licht, zauselige, blassgrüne | |
Moosbärte wehen von den Ästen. | |
Es sind die zwei oder drei Wächter, die diese Orte der Stille und des | |
Verfalls mit dem Leben von einst und der Geschichte der Haida füllen. | |
An manchen Abenden, verrät Ken Hens auf Taanuu, saß er fünf Stunden lang zu | |
Füßen seines Onkels und hing gebannt an seinen Lippen. Der erzählte dann | |
etwa die Geschichte vom Raben, der am Strand von Rose Spit eine riesige | |
Muschel entdeckte, sie neugierig öffnete und ein Gewimmel winziger Wesen | |
freisetzte – so fanden die Menschen in die Welt. | |
In der darauffolgenden Nacht musste Ken wieder vor seinem Onkel antreten | |
und nunmehr diesem die Geschichte vom Vortag erzählen. Stimmten zu viele | |
Einzelheiten nicht oder übertrieb er es mit Ausschmückungen, stand am Tag | |
darauf der nächste Versuch an, so lange, bis die Geschichte genau so saß, | |
wie die Vorfahren sie seit Generationen weitergaben. So wurde Ken zum | |
Träger des Gedächtnisses seines Volkes, denn aufgeschrieben wurden Mythen | |
und Historie damals nicht. | |
Am letzten Morgen lässt die „Maple Leaf“ gestochen scharfe, bläuliche | |
Bergzüge hinter sich, die ein paar Nebelschleier umgeworfen haben. Die | |
Aufbauten an Deck sind noch nass von der Nacht. Es riecht nach Kaffee, ein | |
Fisch springt. Und dann taucht aus dem Dunst der kompletteste doppelte | |
Regenbogen auf, der sich je über eine Meeresenge gespannt hat. Er bringt | |
doppeltes Glück, meinen die Haida. Die Reise zwischen ihren Inseln steht | |
unter einem guten Stern.“ | |
8 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Naturkatastrophe-droht/!5030703&s=haida+gwaii/ | |
[2] /Die-Wahrheit/!5654871&s=wei%C3%9Fkopfseeadler/ | |
## AUTOREN | |
Franz Lerchenmüller | |
## TAGS | |
Ich meld mich | |
Pazifik | |
Insel | |
Kunst | |
Ich meld mich | |
Ich meld mich | |
Ich meld mich | |
Gabriel García Márquez | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kunstprojekt aus Berlin: Gast an unbekanntem Ort | |
Das Bedürfnis nach Abwechslung befriedigen, die Neugierde wecken und | |
Achtsamkeit üben: Die Künstlerin Stefie Steden organisiert „Zimmerreisen“. | |
Begegnung im Grand Canyon: Der weiße rote Mann | |
In Zeiten des Permanent-Staus verkauft sich eine Aura von Einsamkeit immer | |
noch am besten. Und Harald vermittelt zwischen den Welten. | |
Reisen war und bleibt gefährlich: Vergesst Venedig! | |
Corona ist auch ein Warnschuss für die Reisesüchtigen unter uns. Zu Hause | |
bleiben schont nicht nur die Nerven, es ist auch gesünder. | |
Bei den Mayas in Guatemala: Reisen mit Notizbuch | |
Gesammelte Notrationen von unterwegs: Damit wir nicht vergessen, warum wir | |
gereist sind. Und wieder reisen werden. | |
Kolumne Ich meld mich: Wo Gabo seine Goldfische fand | |
In Kolumbien verstecken sich magische Orte, wie Aracataca und Mompox. Eine | |
Reise durch die Fantasie von Gabriel García Márquez. | |
Kolumne Ich meld mich: Land unter in den Llanos | |
Die Llanos – das sind die endlosen Ebenen Venezuelas. Ein Leben wie im | |
mexikanischen Western, mit Liedern so traurig wie Venezuelas Aktualität. |