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# taz.de -- Kunstprojekt aus Berlin: Gast an unbekanntem Ort
> Das Bedürfnis nach Abwechslung befriedigen, die Neugierde wecken und
> Achtsamkeit üben: Die Künstlerin Stefie Steden organisiert
> „Zimmerreisen“.
Bild: Ausschnitt aus einem Regal in der Wohnung, die die Autorin auf ihrer Zimm…
Urbanstraße Ecke Baerwaldstraße, Berlin-Kreuzberg; die Tür im Treppenhaus
springt auf, meine Gastgeberin und ich nicken uns aufwendig zu, hinter
unseren Masken. Wir begrüßen und verabschieden uns fast im selben
Augenblick. Wenn ich die Wohnung später wieder verlasse, soll ich den
Schlüssel durch den Briefschlitz werfen. „Fühl dich wie zu Hause!“, ruft
sie mir noch über die Schulter zu, als sie geht. Dann bin ich allein in
einer fremden Wohnung einer mir fast unbekannten Person. Ich bin auf
Reisen; auf „Zimmerreisen“.
Zuerst fühlt es sich seltsam an, inmitten des fremden Zeugs zu stehen. Doch
nach dem ersten beiläufigen Umherschauen nehme ich einen anderen Blick auf
die Dinge um mich herum ein. Ich erkenne die verwandte Ästhetik einiger
Objekte, identifiziere Erinnerungsstücke von Reisen, verliere mich in
Setzkästen voller Kleinigkeiten, die von anderen Orten und Menschen
erzählen und bestimmte Vorlieben und Handlungen offenbaren. Die Jacke noch
über den Schultern habe ich bereits die ganze Wohnung in kleinen Bewegungen
abgeschritten. Bald werden mir die Augen müde – ich verhalte mich wie eine
Museumsbesucherin.
Weil sie selbst Lust hatte, in fremde Zimmer zu schauen, hat die Berliner
Künstlerin Stefie Steden das Format der „Zimmerreisen“ ins Leben gerufen.
Seit 2015 reisen Menschen in Berlin und andernorts durch fremde Wohnungen.
Vorher und nachher treffen sie sich – im Moment online –, um neue
„Reisemöglichkeiten“ zu finden und ihre Erfahrungen auszutauschen. Der
Aufenthalt ist an Bedingungen geknüpft, die die Gastgeber*innen selbst
festlegen. Aber im Prinzip gibt es keine Barrieren – jede*r kann nach
vorheriger Anmeldung teilnehmen, kostenlos und theoretisch überall, wenn
sich nur erreichbare Ziele finden lassen.
## Begegnung mit sich selbst
Für die Reise selbst wird nichts benötigt außer ein Schreib- oder
Aufzeichnungsgerät, um Notizen zu machen, und gegebenenfalls ein
Fotoapparat. Das nächste Onlinetreffen der „Zimmerreisenden“ findet am 11.
März abends statt.
„Ich war nie eine Reisende“, gibt Stefie Steden gerne zu. Sie sei immer nur
an zwei Orten; in Berlin und an ihrem Zweitwohnsitz in Below, einem
kleinen, uralten Angerdorf in Mecklenburg-Vorpommern. Sie weiß, dass das
nicht zu einer „braven Bildungsbürgerin“ passt, weil doch das Reisen heute
unbedingt als „Kulturtechnik“ zählt. Dennoch denkt sie viel darüber nach
und meint, dass es mit der Kunst vieles gemein hätte; die „Konfrontation
mit Neuem und mit sich selbst“.
Die Zimmerreisen sind für sie eine Möglichkeit, das Fremde zu erkunden und
„Wohnen als ästhetische Praxis“ zu erfahren. Dahinter steht eine
Philosophie des Reisens, die nicht nur ökologisch nachhaltig ist, sondern
eine bestimmte Form der Wahrnehmung anspricht. „Minimales Reisen“ nennt sie
das.
In partizipativen Formaten wie Spaziergängen, Besuchen und gemeinsamen
Betrachtungen über scheinbar Alltägliches in Berlin und Below erprobt
Stefie Steden solche kleinen Reiseerfahrungen und minimalen
Bewegungsformen. Seit der Pandemie liegt sie damit voll im Trend. Zu den
Kennenlerntreffen der Zimmerreisen schalten sich nun schon
Teilnehmer*innen aus Nürnberg, Köln oder Hamburg.
[1][Seitdem Reisen an entfernte Orte schwierig bis unmöglich geworden sind,
suchen wir nach Möglichkeiten, diese Erfahrung zu ersetzen] – und gehen dem
Reisen damit auf den Grund. Was ist es, das uns die Welt und uns selbst so
frei erscheinen lässt, sobald wir den Alltag hinter uns gelassen haben?
Warum fühlen wir uns leichter, beweglicher oder gar glücklicher, sobald die
Haustür hinter uns zuschlägt – sofern wir auf Reisen gehen?
## Neuer Blick auf das Vertraute
Die Idee der Zimmerreisen kam in der Literatur auf. Im Jahr 1790 erfand sie
der [2][französische Schriftsteller Xavier de Maistre] als literarische
Gattung, als er aufgrund eines Duells 42 Tage in Hausarrest in Turin
verbringen musste. Eine mehr als 100 Seiten lange „Reise um mein Zimmer“
ist ein Roman, der die Gegenstände um ihn herum mit Geschichten zum Leben
erweckt. Der Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler nennt das Zimmerreisen
eine „Fortbewegungsart, die, ohne vom Fleck zu kommen, vieles in Bewegung
setzt“.
Die Reiseberichte von Zimmerreisenden verdeutlichen, dass Reisen nicht die
geografische Distanz, sondern eine Distanz des Bewusstseins ausmacht, eine
Veränderung von uns selbst zum Alltäglichen und Gleichbleibenden. Es ist
ein Zustand, eine ästhetische Wahrnehmung, die Michel Foucaults „Blick des
Ethnologen“ ähnelt. Jeden Tag überblicken wir unzählige Dinge und Orte,
sehen aber kaum mehr bewusst hin. Dieser Automatismus wird bei den
Zimmerreisen – und im „Reisemodus“ überhaupt – ausgesetzt. Wir bemerken
wieder, was da ist und wie es ist. Auf einmal gelangen die Dinge wieder zu
Bedeutungen, vielleicht anderen als vorher.
## Erinnerung als Gastgeschenk
Nachdem Teilnehmer*innen der Zimmerreisen in fremden Wohnungen waren,
fertigen sie nicht selten kreative und aufwendige Stücke über das Erlebte
an wie Fotobücher, Collagen oder literarische Reiseberichte. Bei den
gemeinsamen Treffen stellen sie ihre Werke vor. Manche überlassen sie ihren
Gastgeber*innen als „Gastgeschenk“.
Ein Journalist beschreibt in elaborierten Worten und in fachmännischen
Fotografien den Stil der Wohnung einer Innenarchitektin. Diese weint vor
Rührung, Stolz auf ihr „Werk“, ihre Wohnung. Eine junge Frau ist bei einem
Studenten zu Besuch; während der am Schreibtisch vorm Computer sitzt, darf
sie sich in Ruhe in der WG umsehen. Sie fragt: „Darf ich eigentlich auch in
die Schubladen schauen?“ Er überlegt kurz – damit hat er nicht gerechnet;
dann bejaht er.
Auch ich spüre bei meiner Zimmerreise eine fast intime Nähe zu meiner
unbekannten Gastgeberin. Nach einiger Zeit befinde ich mich Kaffee trinkend
am Küchentisch lümmelnd in einen Roman vertieft, den ich selbst zu Hause
habe. Aus dem Bluetooth-Lautsprecher tönen Songs, die mir Spotify ebenfalls
in meine Playlists spült.
Es ist unverkennbar, dass dieses Format – Kunst oder nicht – Beziehungen
schafft; durch Begegnungen, Teilhabe am eigenen alltäglichen Leben, das
Offenbaren persönlicher Momente. Stefie Steden arbeitet gern mit Menschen,
sagt sie, und sie möchte, dass sich dieses Miteinander „nicht nur auf
erzähltes Leben beschränkt.“
Zimmerreisen schaffen die Möglichkeit, mit anderen auf eine sehr direkte
und sinnliche Art und Weise in Kontakt zu treten, ohne sich zu berühren
oder nur in die Nähe des anderen zu kommen.
Vor allem aber erinnern sie uns ans Reisen und ein Gefühl der Freiheit,
wenn Gastfreundschaft und Teilhabe Türen öffnet und auf einmal alles wieder
möglich erscheint.
19 Feb 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Luise Wolf
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