| # taz.de -- Tourismus neu denken: Reisen als sinnliche Erfahrung | |
| > Die Konsumlogik von Tourismus schadet nicht nur der Umwelt – sie drängt | |
| > uns auch weg vom eigentlichen Zweck des Reisens. | |
| Bild: Viel Platz für Tauben auf der Plaza de Catalunya in Barcelona | |
| Ein Topthema der Pandemiesaison waren Spaziergänge. Und so kam es, dass | |
| der Spaziergangswissenschaftler Bertram Weisshaar zum gefragten | |
| Interviewpartner wurde. Weisshaars neustes Buch „Einfach losgehen“ erzählt | |
| vom Spazieren, Streunen, Denken, Wandern. Weisshaar liest leidenschaftlich | |
| gern Landschaften, wie andere Leute Bücher lesen, und das kann man nur zu | |
| Fuß. Eigene Wege in einer durchgeplanten Landschaft zu finden, hält er für | |
| Kunst. Ein Spaziergang unter Coronabedingungen ist für ihn, wie „sich | |
| bewusst freizunehmen“. | |
| Trost für schockierte Touristen, die auf ihrem Urlaubsstorno sitzen | |
| blieben? Genugtuung für Wandervögel? Klammheimliche Freude für Reisemuffel? | |
| Auf den Lockdown reagierten die Menschen unterschiedlich. Wo der eine das | |
| Durchkreuzen seiner Pläne beklagt, ist der andere erleichtert, von der | |
| „Pflicht“ zur Urlaubsreise befreit zu sein. | |
| Dabei waren wir doch gerade überall auf der Welt daheim. Tourismus von | |
| heute wurde längst zum [1][heimatfühligen Pendant der Globalisierung]. Die | |
| wohlhabenden Mittelschichten weltweit, die zu ausreichend Geld gekommen | |
| sind, um sich eine globale Freizeitorientierung zu erlauben, finden an | |
| ausgewählten Orten dieser Welt ihr besseres Zuhause: ob im Wellnessressort, | |
| auf Kreuzfahrt, in der Zweitwohnung, auf Safari oder in der Partyzone. Sie | |
| werden soziologisch, etwa von Andreas Reckwitz, in der neuen urbanen und | |
| kosmopolitisch orientierten Mittelschicht verortet. Diese nutze „Globalität | |
| in allen ihren Facetten als eine Ressource für die Entwicklung des Ich“. | |
| ## Wir rasen um die Welt | |
| Als „identitätsstiftende Beschäftigung“ gehört der weltumspannende | |
| Tourismus hier längst zum Habitus. Man macht es dem Geld gleich, das um die | |
| Welt rast. Die heutigen Touristen bewegen sich auf einer eigenen, selbst | |
| geschaffenen Topografie, die wie eine glänzende Folie die Welt umspannt. | |
| Die Urlaubsreise, auch wenn sie erst seit rund 60 Jahren etabliert ist, | |
| erscheint als größte Selbstverständlichkeit. Als wäre sie ein | |
| Menschenrecht. | |
| Wenn aktuelle Stimmen zum Coronalockdown wie die des Historikers Valentin | |
| Groebner, des Soziologen Hartmut Rosa oder des Philosophen Richard David | |
| Precht im aktuellen Stillstand auch einen überfälligen Bruch sehen, drücken | |
| sie damit ihr Unbehagen an der extremen Beschleunigung auch im Tourismus | |
| aus. | |
| Ein Jahr zuvor, noch vor Corona, waren nicht Spaziergänge ein Topthema, | |
| sondern die [2][weltweiten Hotspots] mit ihren explodierenden Zahlen. Nicht | |
| nur Postkartenstädte wie Barcelona oder Rom, sondern auch klassische | |
| touristische Highlights wie Venedig, Machu Picchu oder selbst verträumte | |
| Orte wie Hallstatt im österreichischen Salzkammergut wurden zu Besucher- | |
| und Instagram-Hits. | |
| Und nun diskutieren Optimisten, ob sich im Lockdown vielleicht neue Chancen | |
| zur gesellschaftlichen Transformation, zu mehr Nachhaltigkeit und | |
| Klimagerechtigkeit abzeichnen. | |
| Der Coronalockdown kappte die Spitze der rasenden Beschleunigung. | |
| Reisewahn, Autowahn, Modewahn – unsere Konsumgesellschaft geizt nicht mit | |
| Exzessen. Tourismus hat uns die Vielfalt der Welt leicht zugänglich | |
| gemacht, bis sie bedeutungslos wurde. Das Reisestorno zwingt uns zum | |
| Innehalten, Selbstverständlichkeiten werden hinterfragt. Die Zukunft | |
| scheint plötzlich verhandelbar. | |
| Gerade wegen seines Erfolgs nimmt Tourismus für die erhofften | |
| Transformationsprozesse eine Schlüsselrolle ein. Tourismus ist ein | |
| Globalisierer der ersten Stunde und wirtschaftlich gesehen eine | |
| Boomindustrie ohne ein absehbares Ende. Seit Mitte der siebziger Jahre des | |
| letzten Jahrhunderts haben sich die Touristenzahlen weltweit verdreißig- | |
| und die Fluggastzahlen versiebzigfacht. | |
| Tourismus hat Landschaften ruiniert, aber auch moderne Infrastrukturen | |
| befördert, er hat sich in traditionelle Lebensräume geschlichen, aber auch | |
| deren traditionelle Herrschafts- und Machtstrukturen angefressen sowie | |
| geregelte Arbeitsverhältnisse und Emanzipationsprozesse für Frauen | |
| befördert. | |
| Er hat den Erfahrungsraum aller erweitert und Kontakte ermöglicht. Er ist | |
| heute ein unverzichtbarer Eckpfeiler der Volkswirtschaften vieler Länder. | |
| Die Fliegerei ist ein Klimakiller, und die Mobilität ist ein Stressor, aber | |
| ohne Mobilität keine Internationalität und keine Weltgesellschaft. | |
| Profilierte Wissenschaftler wie die Wirtschaftswissenschaftlerin Maja | |
| Göpel, die jetzt den Vorsitz des Wissenschaftlichen Beirats der | |
| Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) innehat, werben für die | |
| sozialökologische Transformation. „Ohne tiefen Strukturwandel und die | |
| Veränderung von Konsummustern wird es nicht gehen“, sagt sie im Interview | |
| mit der taz. Die Nachhaltigkeitsforscherin plädiert für ein anderes | |
| Wirtschaften. „Aber solange unsere Alltagsroutinen durch | |
| To-go-Verkaufsbuden führen und unsere Aufmerksamkeit mit Werbe- und | |
| Marketingbotschaften vermüllt wird oder auf Kurzlebigkeit getrimmte Trends | |
| wie Fast Fashion (...) nicht politisch angegangen werden, bleibt | |
| Konsumismus die vermeintliche Normalität.“ | |
| Mit ihrem Buch „Unsere Welt neu denken. Eine Einladung“ hat Maja Göpel | |
| jetzt einen Sachbuchbestseller gelandet. Doch bei allem Publikumsinteresse | |
| und aller Zustimmung, die Nachhaltigkeitsziele laut Umfragen erreichen, | |
| wundern sich Wissenschaftler doch immer wieder, wie wenig tatsächlich von | |
| den Konsumenten selbst angegangen wird: „Die komplette Nachhaltigkeits- und | |
| Klimaschutzszene verzweifelt ja hochprofessionell an der Frage, warum | |
| Menschen nicht zur Veränderung ihrer Lebensweise bereit sind, obwohl sie | |
| doch so viel darüber wissen, dass es so nicht weitergeht. Vielleicht wäre | |
| es einfach besser, statt noch mehr Information und Wissen anzubieten, mal | |
| darüber nachzudenken, wo denn wohl Veränderungsbereitschaften zu finden | |
| sind – im Wissen liegen sie jedenfalls nicht,“ schreibt Harald Welzer. | |
| ## Wie verzogene Kinder | |
| Auch für Welzer ist Konsumismus ein Bremsklotz: „Zum einen wurden in Zeiten | |
| des Hyperkonsums künftige individuelle Ziele durch einen Sofortismus der | |
| unverzögerten Bedürfnisbefriedung ersetzt (...). Was ich haben will, kann | |
| ich sofort bekommen, ohne Triebaufschub (...).“ Bürger und Bürgerinnen | |
| träten fast ausschließlich nur noch in der Verbraucherrolle auf und | |
| beanspruchten Lieferung am besten sofort. „Wie verzogene Kinder bekommen | |
| sie sie auch.“ Corona mache, meint Welzer, falsche Wertigkeiten deutlich. | |
| Tatsächlich sitzen wir in Mustern fest, gehen Routinen nach und folgen, | |
| ohne groß darüber nachzudenken, gesellschaftlichen Standards und den Denk- | |
| und Handlungsmustern unserer jeweiligen Milieus. Eine Gesellschaft | |
| insgesamt sei „träge“, so der Soziologe Armin Nassehi – der deshalb auch | |
| keine großen Veränderungen durch Corona und die Lockdowns erwartet. | |
| Entgegen allen sonstigen Beschleunigungen setzen sich Wandlungen in den | |
| Tiefenstrukturen nämlich nur langsam durch, und das selten ohne | |
| gesellschaftliche Reibung und soziale Proteste. Der Anpassungsdruck, der | |
| wegen sozialer Wandlungsprozesse auf den Menschen lastet, ist und war immer | |
| hoch. | |
| War es früher einmal der extreme Zwang der Einpassung in die „neue“ | |
| Industriegesellschaft mit ihrer rigiden Ökonomie und den Arbeitszwängen, | |
| die sich radikal gegen das vorindustrielle, bäuerliche Zeit- und | |
| Lebensgefühl richteten, so fordert heute die neue digitale Gesellschaft mit | |
| ihrer Medialität heraus, ihren neuen und abstrakten Raum- und Zeitordnungen | |
| sowie transhumanen Tendenzen. Die Anforderungen an die Flexibilität und | |
| Selbstorganisation der Einzelnen sind sehr hoch geworden. Reisen ist ein | |
| Wohlstandsprivileg. Aber auch ein Trost. Und ein Bonus für die ganze Mühe. | |
| Worauf wollen und können wir verzichten? Wie uns umgewöhnen? Nein, schlimm | |
| ist es sicher nicht, infolge von Seuchenschutzmaßnahmen vor überholt | |
| geglaubten Grenzen zu stehen und sich umsehen zu müssen. Aber kann man | |
| wirklich guten Gewissens Balkonien als Reisealternative empfehlen? | |
| Vielleicht ist reisen wertvoller, als man gemeinhin denkt. Nicht als | |
| Konsumprodukt und Lifestyle, sondern als sinnliche Erfahrung, als | |
| Empfindung von intensiver Körperlichkeit, Lebendigkeit und Erotik. Wer für | |
| Unerwartetes offen ist, wird auch überrascht. Das Reisen hat uns | |
| substanzielle Selbsterfahrungen ermöglicht, an unterschiedlichen Orten, die | |
| auf uns zurückgewirkt haben und sich in unsere Wahrnehmungsweisen und unser | |
| Selbstsein eingeschrieben und ungemein bereichert haben. Ein Luxus. Eine | |
| privilegierte Welterfahrung, für die, die reisen konnten und durften. Ein | |
| Privileg der Privilegierten. Aber leider verschüttet unter Konsum, einer | |
| touristischen Praxis rasender Weltaneignung. | |
| Die Konsumlogik des Tourismus mag jeden locken und die Reisewünsche | |
| erfüllen. Mit der Verplanung von Zeit, der Anreise ohne Eigenbewegung, der | |
| Normierung fremder Erfahrungsräume als touristische Spielburgen, der | |
| Aufhebung jeglichen Leerlaufs hat das marktförmige touristische Arrangement | |
| jedoch aus Reisekultur eine normierte Bedürfnisbefriedigung gemacht. | |
| Ein viel beschworenes Bild für Muße, Körperlichkeit, Erotik ist dagegen | |
| immer wieder die Bewegungsfreiheit am Strand. Das Meer, der Sand, der Wind | |
| stimulieren die Gesamtheit der menschlichen Sinne und wecken Körpergefühle. | |
| An Stränden wird Zeit verplempert. Man darf zur Ruhe kommen. Hier kann sich | |
| Erotik entfalten. Strandleben ist wie eine Bühne. Auch sehen und gesehen | |
| werden ist Kommunikation. Und es öffnet Perspektiven. | |
| ## Neue Projekte in den Nischen | |
| Vor allem Natur nimmt im Resonanzerleben von Menschen eine immer wichtigere | |
| Bedeutung ein. Menschen, die sich bewegen, finden leichter zu sich. Weite | |
| Strecken zu Fuß zu gehen wird nicht ohne Grund als Tipp gehandelt. Albert | |
| Hofmann, der Erfinder des LSD, empfahl jedem, der auf einen Rausch aus ist, | |
| den Gang in den Wald. All dass bedeutet nichts anderes, als sich selbst | |
| intensiver zu spüren. | |
| Sich dieses Erleben zurückzuholen, müsste Teil eines Wandels der | |
| Reisekultur sein. Einer Reisekultur, die sich des Ausverkaufs der Sinne | |
| genauso bewusst ist wie einer Vielfliegerei, die das Klima schädigt. | |
| „Das Wichtige an der Pandemieerfahrung ist, dass die Idee implodiert ist, | |
| dass es nicht anders geht, als wir es bisher machen“, so Maja Göpel. Sie | |
| befürwortet neue Pfade und neue Lösungen. | |
| Solche Freiheiten gibt es. Auch als Neuansätze und touristische Projekte in | |
| den Nischen. Das Umdenken im Tourismus hat längst begonnen. Länger, | |
| intensiver, weniger empfehlen tourismuskritische Portale für Fernreisen. | |
| Und wer hätte je gedacht, dass sich heute an jedem Flüsschen ein gut | |
| ausgebauter Radweg findet und dass die hiesige Restnatur mit „Toptrails“ | |
| für Wanderer brilliert? Und solange wir gezwungenermaßen unsere | |
| Entdeckerlust in der Nähe ausleben, entdecken wir vielleicht auch ein | |
| anderes Reisen. | |
| 29 Nov 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christel Burghoff | |
| Edith Kresta | |
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