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# taz.de -- Reisen 2014: Endlich daheim!
> Hat sich das Reisen überholt? Einige Visionen für den Ausstieg aus dem
> Rattenrennen der Vielfliegerei zum Jahreswechsel.
Bild: Angekommen.
Die „Big Visioniers“ treten in Aktion: Eine findige, erfolgsorientierte
Szene von touristischen Großveranstaltern will den Tourismus umgestalten –
mit Unterstützung der Welttourismusorganisation (WTO) und unter recht
verhaltenem Beifall der Kirchen und NGOs.
Corporate Social Responsibility (CSR), Nachhaltigkeit und die Renaissance
der Nähe sind ihre Leitworte. Das globale Netzwerk der Big Visioners, auf
Deutsch Großvisionäre, hat konkrete Vorstellungen für diesen Strukturwandel
entwickelt: Zurück zur Scholle, back to the roots, lautet die Parole der
Unternehmen: „Scholle 2014“.
Und als wären die guten alten Sozialtugenden in die jungen Manager von
heute gefahren, kümmern sie sich jetzt um „wahre Werte“. Sie wollen nicht
länger Surrogate liefern, sondern Ursprünglichkeit, Authentizität, Nähe,
Region, Land. Die I-Worte: Intimität, Introvertiertheit, Intensität und
Interaktion statt der E-Worte: Extroversionen, Extrem, Eklektien und
Exotiken.
## Ist es das wert?
Gründe gibt es viele: Die zunehmend unsichere Weltlage und der
weltumspannende Terrorismus haben die wirtschaftliche Zuversicht der
Unternehmen irritiert, ihre Geschäfte an fernen Gestaden gefährdet. Die
unsicheren Reisewege des Mittelalters grüßen die Reisezukunft. Die
zunehmende Kritik an Umweltverschmutzung, unfairen Arbeitsbedingungen, an
der Zweckentfremdung fruchtbaren Landes für schicke Clubs, des raren Gutes
Wasser für Golfplätze, die Zerstörung der Küsten, taten das Ihrige.
Und die Klimabilanz des Tourismus ist katastrophal. Wer rund um die Welt
fliegt für sein Vergnügen, verpulvert Ressourcen und hinterlässt Spuren,
die durch nichts zu kompensieren sind. Auch nicht von Atmosfair. Nach
Expertenmeinung trägt der weltweite Tourismus rund neun Prozent zu den
globalen Emissionen bei. Ist es das wert, das Reisen in die Ferne?
Das touristische Universum von gestern war ein modernes Haus: gemütlich und
bequem ausgestaltet, von der Kellerbar über die Sauna bis zur begrünten und
verglasten Terrasse. Auf den Frühstückstischen fehlte nirgends das
Nutella-Döschen – ob in Surinam, am Nordkap oder auf Trinidad. Kosmische
Gemütlichkeit. Langweile. Überall dieselben Standards, dasselbe
Lebensgefühl, derselbe Lebensstil. Ein Zustand, in dem die Welt und die
Reiselust zunehmend vor die Hunde gehen.
## Lustlos weit weg
Die Erotik sowieso. Der Tourismus betreibe Raubbau an der wichtigsten
Ressource unseres Lebens, der Erotik, sagt beispielsweise der
Kulturwissenschaftler Bruno August Krümpelmann. Organisierter Tourismus
kanalisiere Verführungen und Normabweichungen, indem er Eigenbewegung
verhindert. Er tilge die freien Räume über die schnelle Anreise und die
Besetzung des Urlaubsraumes mit organisierten, verdichteten Aktivitäten.
Die Traumreisen der Veranstalter seien ein virtueller Ersatz für unsere
konkreten Triebziele. Zeit ist Geld. Im organisierten Tourismus gehen so
die freien Gestaltungsoptionen verloren. Aber genau das liebt Eros
besonders. Eros, das ist für Krümpelmann der Flow, die schöpferische Kraft,
die Herausforderung, die Zeit braucht, um sich voll zu entfalten. Die Lust
schlechthin.
Diese suchen die Urlauber aber vergeblich. Verständlich, dass sie nur noch
lustlos buchen. Das Umdenken der Manager trifft also auf diese harte
Realität. Auf die Bedürfnisse der Touristen selbst. Dem wachsenden
Bedürfnis nach mehr Heimeligkeit, nach Sinn, Ruhe, Entspannung,
Entschleunigung, Familie, nach dem Ausstieg aus dem rasenden Stillstand.
## Die Antwert: Landlust
Die Antwort ist Landlust. Der Trend der Trendsetter. Jene sagenumwobenen
Großstädter mit einem Hang zu einem natürlichen und nachhaltigen Lebensstil
– und dickem Portemonnaie. Diese Hoffnungsträger des grünen Konsums, die
fast schon vergessenen Lohas (Lifestyle of Health and Sustainability), die
erlebnis- und welthungrigen Vielflieger, diese Protagonisten von Lifestyle,
Gesundheit und Nachhaltigkeit, stehen längst auf Landlust.
Mit Vollgas in den Hobbykeller. Grassierende Naturlust. Obst und
Küchengeräte zu Stillleben. Verwunschene Weiher zur Dämmerstunde. Filigrane
Gräser im Frostmäntelchen. Sternehäkeln zum Wohlfühlen. Stille. Alles ruht.
Kräutersegen. Licht fürs Leben. Blumenparadies für Balkonien oder ich mache
euch eine Kerze. Singen macht glücklich. Der Einödhof mit drei Generationen
in der guten Stube als Ideal. Die Magie des Gartens.
„An lauen Abenden sollen in Tontöpfen Kerzen brennen, in den Baumkronen
bunte Lampions hängen. Ein Glas Rosensekt lässig in der Hand, sollten alle
dem Zauber des Gartens erliegen. Buffets wollte ich erstellen, Sehnsüchte
wecken, mit allen Sinnen sollte der Garten genossen und dabei der Alltag
vergessen werden“, schreibt beispielsweise Marina Uhl im Landlust-Magazin.
Naturliebe, modeste Kleidung, Skepsis gegenüber falschem Luxus,
postmaterielle Besinnlichkeit und die Liebe zum „Do it yourself“ – all das
verspricht Notausgänge aus einem Rattenrennen der Vielfliegerei.
Das schlichte Naturerlebnis war der Aufhänger des touristischen Leitbildes
der Unternehmen: „Scholle 2014“. Wer aber glaubt, dass Wandern und
Radfahren schon alles sind, der hat die Fantasie der Macher unterschätzt.
Die Big Visioniers, die unter dem Label der Nachhaltigkeit agieren und
Qualität und Verantwortung im neuen Tourismus propagieren, wetteifern mit
weltweiten Thinktanks zur Rettung des Globus.
Sie wollen das Land als den wahren Gefühlsraum erschließen und verkaufen.
Kein Krümel Scholle, der jetzt nicht umgedreht wird, um ein findiges
Angebot zu entwickeln, kein landaffines Bedürfnis der trendigen Lohas, das
nicht als Konsumprodukt auf den Markt geworfen werden könnte. Die visionäre
Angebotswelle der weltweit vernetzten Touristiker will dem Engagement für
Natur und Umwelt, regionalen Projekten, Burn-out, Sinnsuche und
Nähebedürfnissen gerecht werden. Die Provinz soll sich zu neuen
Gastlandschaften wandeln, die die touristischen Heimkehrer mit offenen
Armen und vor allem mit ganz neuen Versprechen empfängt.
## Swinger-Swing- und Singclub im Herrenhaus
Man munkelt: Deutschlands größter Reiseveranstalter habe sich gerade die
Option für die meisten der 2.000 herrschaftlichen Wohnsitze in Mecklenburg
gesichert. Er plane dort intime Kontakträume: vom Swinger-, Swing- bis
Singclub. Man munkelt auch, dass Korea in deutsche Klöster investiert, um
Wellness und Sinnfindung zu professionalisieren. Industriebrachen werden zu
Kräutergärten für Gottes Apotheke aus der Natur.
Abgehängte Regionen von Chemnitz über Bochum bis zum Saarland sollen zu
Wildbeobachtungsstätten in Zusammenarbeit mit den Naturschutzverbänden
werden, ein Drittel davon als Jagdrevier, um echtes Töten und Überleben in
der Wildnis zu lernen. In abgehängten Landstrichen wie Mecklenburg oder
Brandenburg blühen die Ideen.
Und neue Standards sollen gesetzt werden, auch für Schweine. Beispielsweise
in Brandenburg. Denn auf der Agenda der touristischen Unternehmen: „Scholle
2014“ steht jetzt auch der Schutz unserer Mitwelt, das Engagement für
gesunde regionale Produkte und selbstverständlich auch für das stressfreie
Züchten und Schlachten von Schweinen. Die ersten großen Schweinemaststätten
mussten schon nach Polen ausweichen.
Kuschelige Welt, die die lange vernachlässigten Bedürfnisse der modernen
Menschen nach echter Heimat ernst nimmt, aufgreift, umsetzt? Drama des
Eros? Die ganze Geschichte nur ein Fake? Wir warten ab.
28 Dec 2013
## AUTOREN
Christel Burghoff
Edith Kresta
## TAGS
Landlust
Tourismus
Zerstörung
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Vegetarismus
Saarland
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