| # taz.de -- Mit dem Spaziergangsforscher unterwegs: „Zu Fuß kommt man am bes… | |
| > Bertram Weisshaar erkundet Landschaften, indem er sie begeht. Ein Gang | |
| > durch den ehemaligen Braunkohletagbau Profen südlich von Leipzig. | |
| Bild: Hier war mal Brankohle-Tagebau: Bertram Weisshaar im Revierpark Profen | |
| taz: Herr Weisshaar, wir befinden uns hier im Revierpark Profen südlich von | |
| Leipzig. Am Eingang steht ein Schild: „Betreten verboten“. Der Zugang ist | |
| so zugewachsen, dass man ihn kaum findet. Wo sind wir hier überhaupt? | |
| Bertram Weisshaar: Der Revierpark Profen entstand nach dem gleichnamigen | |
| Tagebau und wurde 1994 offiziell eröffnet. Nachdem wir den schmalen Pfad | |
| durch die Büsche gegangen sind, befinden wir uns jetzt auf einem angelegten | |
| Weg. Hier hat man nicht den Eindruck, unerwünscht zu sein. Der Eingang ist | |
| aber tatsächlich uneindeutig. Neben dem Verbotsschild steht ein Hinweis zu | |
| Verhaltensregeln. Man darf nicht zelten und kein Feuer anzünden. | |
| taz: Mögen Sie solche uneindeutigen Orte? | |
| Weisshaar: Ja. Vor allem, wenn sie so außergewöhnlich sind wie hier. Wir | |
| befinden uns jetzt auf einer Abraumkippe des Tagebaus Profen, die von 1978 | |
| bis 1983 geschüttet wurde. Die Geländestruktur, die wir sehen, ist | |
| annähernd ein halbes Jahrhundert alt. Inzwischen sind Birken gewachsen und | |
| Moos. Aber die Vegetation ist immer noch spärlich. | |
| taz: Was ist sonst noch außergewöhnlich hier? | |
| Weisshaar: Die Kippe wurde geschüttet, als der Braunkohletagebau in | |
| Deutschland als die größte Umweltbelastung überhaupt galt. Und plötzlich | |
| nennt man das einen Park! | |
| taz: Für gewöhnlich wird nach dem [1][Ende des Tagebaus] die Grube | |
| rekultiviert, also wieder neuer Wald, eine Seenlandschaft oder | |
| landwirtschaftliche Fläche geschaffen. Hier dagegen wurde die Kippe einfach | |
| sich selbst überlassen. | |
| Weisshaar: Das ist die nächste Besonderheit. Normalerweise wird eine solche | |
| Kippenlandschaft eingeebnet und mit kulturfähiger Erde überdeckt. Also | |
| wieder urbar gemacht. Das ist hier nicht passiert. Stattdessen hat man | |
| gesagt: Das hier hat eine ganz eigene Ästhetik. | |
| taz: Faszinierend. Damals war die Erzählung vom Tagebau doch die, dass er | |
| geschundene Landschaften hervorbringt, die man wieder heilen muss. Und hier | |
| ließ man die Wunde einfach offen? | |
| Weisshaar: Eine Pioniertat. Einen anderen Blick auf den Bergbau als den | |
| einer geschundenen Landschaft gab es erst ab Mitte der neunziger Jahre. | |
| Naturschützer haben den sehr speziellen Wert solcher Kippen für den | |
| Naturschutz erkannt und gefordert, einen Teil davon nicht zu rekultivieren. | |
| taz: Die Kippe als Wüste, als Ereignis mit einer ganz besonderen Ästhetik, | |
| die es zu schützen gilt: Dieser Blick ist heute allerdings nichts | |
| Ungewöhnliches mehr. | |
| Weisshaar: Bei meinen Spaziergängen durch die Bergbaufolgelandschaft war | |
| dieser Aha-Effekt schon immer da. Auch Fragen wie die, ob das hier so | |
| aussieht wie in Island. | |
| taz: Braucht man den Vergleich, um sich in einer solchen bislang | |
| ungesehenen Landschaft zurechtzufinden? | |
| Weisshaar: Was ist überhaupt Landschaft? Da sind wir bei [2][Lucius | |
| Burckhardt und den Ursprüngen der Spaziergangsforschung]. | |
| taz: Burckhardt war Ihr Lehrer, bei dem Sie in Kassel studiert haben. Bei | |
| ihm haben Sie gelernt, dass Landschaft an sich gar nicht existiert, sondern | |
| erst im Auge des Betrachters entsteht. | |
| Weisshaar: Und das kann man hier im Revierpark Profen überprüfen. Wenn es | |
| kein Bildrepertoire einer Bergbaufolgelandschaft gibt, braucht man den | |
| Vergleich. Eine ähnliche Landschaft wie hier in der Lausitz heißt | |
| Geigersche Alpen. | |
| taz: Wir verlassen gerade die zerklüftete Kippenlandschaft und biegen auf | |
| eine kleine Allee ein, die von Birken gesäumt ist. Das ist uns vertrauter. | |
| Weisshaar: Auch, weil man sieht, dass die Birken gepflanzt wurden. Die | |
| Allee verläuft schnurgerade. Dort, wo die Birken Pioniergehölze sind, | |
| stehen sie ohne Ordnung in der Landschaft. | |
| taz: Aber auch abseits des Wegs verändert sich das Landschaftsbild. | |
| Weisshaar: Es wird jetzt flacher, das heißt, es gibt weniger Erosion. Die | |
| Birken stehen nun dichter, sind höher, es gibt mehr Moos. | |
| taz: Man hört aber keine Vögel. | |
| Weisshaar: Aber man hört den Tagebau nebenan. | |
| taz: An den Revierpark Profen schließt sich noch der aktive Tagebau Profen | |
| an. | |
| Weisshaar: Der ist noch bis Ende 2034 aktiv. Dann wird er stillgelegt. | |
| Somit stellt sich die Frage, ob die Landschaft, die uns hier begeistert, | |
| wachsen kann. | |
| taz: Oder ob sie verlorenzugehen droht. Sie kritisieren vor allem die | |
| Seenlandschaft, die in der Vergangenheit entstanden ist. Warum? | |
| Weisshaar: Wenn man an einem Bergbausee steht, erhält man keine Vorstellung | |
| davon, was da vorher einmal war. Deshalb ist meine Hoffnung, dass wir bei | |
| den Seen, die aus den heute noch aktiven Tagebauen entstehen sollen, die | |
| Uferbereiche so gestaltet werden, dass man noch die Geschichte der | |
| Landschaft erkennen kann. | |
| taz: Sie sind 1962 in Villingen-Schwenningen in Baden-Württemberg geboren | |
| und haben in Kassel Landschaftsplanung studiert. Was hat Sie aus Hessen ins | |
| Mitteldeutsche Revier verschlagen? | |
| Weisshaar: Eine Exkursion der Uni Kassel hat uns nach Dessau geführt. Auf | |
| einer Radtour sind wir dann zum Tagebau Golpa-Nord gefahren. Das war meine | |
| erste Begegnung mit dem Braunkohletagebau. Die hat mich elektrisiert und | |
| nicht mehr losgelassen. Ich hab dann dem Bauhaus Dessau vorgeschlagen, auf | |
| dem Grunde des Tagebaus einen öffentlichen Spaziergang zu gestalten. Dieser | |
| erste Spaziergang fand im Mai 1995 statt. | |
| taz: Das ist jetzt 30 Jahre her. | |
| Weisshaar: Deshalb haben das Bauhaus Dessau und das Umweltbundesamt im | |
| September 2025 zu einem Jubiläumsspaziergang eingeladen. Das Thema war 30 | |
| Jahre Spaziergangsforschung. | |
| taz: Wenn man zum Thema Spaziergangsforschung recherchiert, kommt man an | |
| Ihnen nicht vorbei. | |
| Weisshaar: Es gibt auch noch andere. Beim Jubiläumsspaziergang haben einige | |
| Personen den Spaziergangsausweis von 1995 mitgebracht. Den haben damals | |
| alle Teilnehmer bekommen. Der Ausweis hat sie berechtigt, sich | |
| Spaziergangsforscher zu nennen. Es gibt mittlerweile über 6.000 | |
| Spaziergangsforscher in Deutschland. | |
| taz: Das ist also kein geschützter Beruf. | |
| Weisshaar: Es ist auch kein Studiengang. Es ist nur ein Nebenfach in der | |
| Landschaftsplanung. | |
| taz: Sie haben in diesen 30 Jahren auch Spaziergänge durch Städte wie | |
| Leipzig angeboten. Was unterscheidet die Bergbaufolgelandschaft von der | |
| Stadtlandschaft? | |
| Weishaar: Viel spannender ist doch die Frage nach den Gemeinsamkeiten. | |
| Leipzig war über viele Jahre eine schrumpfende Stadt. In vielen | |
| Straßenzügen gab es Lücken, Brachen. | |
| taz: Die Überschrift lautet also Strukturwandel. | |
| Weisshaar: Die Überschrift ist Wandel. Diesen Wandel kann man in der Stadt | |
| wie auch in der Landschaft lesen. An der Stelle, an der wir gerade gehen, | |
| taucht gerade der Rest eines ehemaligen Förderbands auf. Wo man hinschaut, | |
| begegnen einem Wandel und Veränderung. | |
| taz: Sollte man da nicht ein Hinweisschild hinstellen, um diejenigen, die | |
| mit dem Ort nicht so vertraut sind, beim Lesen der Landschaft zu | |
| unterstützen? | |
| Weisshaar: Bei den Klippen, auf denen wir vorhin gegangen sind, ist es | |
| völlig offensichtlich, dass es ein Zwischenzustand ist. Doch jede | |
| Landschaft ist immer im Übergang. | |
| taz: Sie sind Freiberufler. Kann man von der Spaziergangsforschung leben? | |
| Weisshaar: Ich lebe noch. (lacht) | |
| taz: Sie halten Vorträge und bieten Spaziergänge an. Müssen die | |
| Teilnehmenden dafür etwas zahlen? | |
| Weisshaar: Oft bekomme ich einen Auftrag, einen Spaziergang zu entwickeln. | |
| Die Spaziergänge, die ich führe, sind meistens kostenlos. Ich verstehe das | |
| auch als eine Art politische Bildung. | |
| taz: Wer sind die Auftraggeber? | |
| Weisshaar: Eine Kommune. Oder ein Landschaftsverband. Es gibt aber auch | |
| geförderte Projekte im Kontext Kunst oder Kultur. Auf diesem Weg habe ich | |
| auch schon mehrere Audiospaziergänge gestaltet. In Frankfurt am Main, | |
| Kassel, Leipzig. Die kann man sich im Netz anhören. | |
| taz: Wird denn der Spaziergangsforschung genügend Aufmerksamkeit | |
| entgegengebracht? | |
| Weisshaar: Ich hoffe etwas darauf, dass mit dem nahenden Ende des | |
| Braunkohlebergbaus unsere Strategie, die Landschaft mit minimalen | |
| Eingriffen lesbar zu machen, eine breitere Aufmerksamkeit bekommt. Nicht, | |
| damit ich überall gebucht werde, sondern dass die Methode aufgegriffen | |
| wird. | |
| taz: War Ihnen das Gehen schon als Kind in die Wiege gelegt? | |
| Weisshaar: Nein. Es hat tatsächlich mit diesem ersten Spaziergang in | |
| Golpa-Nord begonnen. Allerdings war das kein bloßes Gehen oder Wandern, | |
| sondern, wie es in der Spaziergangsforschung heißt, ein Spazieren als | |
| Methode. Als eine landschaftskritische Methode. Inzwischen gehe ich aber | |
| auch so gerne spazieren. | |
| taz: Ihr Schnitt beträgt 8.000 Schritte am Tag. | |
| Weisshaar: Das stimmt. Ist das viel? | |
| taz: Ich komme nur auf 7.000 Schritte. | |
| Weisshaar: Das Gehen ist übrigens auch deshalb eine gute Methode, weil man | |
| zu Fuß am besten an die Welt herankommt. Natürlich könnten wir hier – wir | |
| umrunden im Revierpark jetzt einen See – auch mit dem Mountainbike | |
| herumgurken. Aber das Beherrschen des Fahrzeugs würde uns so sehr in | |
| Anspruch nehmen, dass wir vieles gar nicht sehen würden. Nur, wenn ich zu | |
| Fuß gehe und die Füße fast alleine gehen lasse, kann ich nach links und | |
| rechts schauen. Das schärft die Wahrnehmung für die Umgebung. | |
| taz: Können Sie auch mal abschalten und absichtslos gehen? | |
| Weisshaar: Ja, das kann ich. | |
| taz: Dann aber wohl am ehesten alleine. | |
| Weisshaar: Nicht unbedingt. Es heißt ja auch, vier Augen sehen mehr als | |
| zwei. Und: Ich sehe was, was du nicht siehst. | |
| taz: Wie speichern Sie das, was Sie sehen? Vorwiegend mit der Kamera? Oder | |
| nehmen Sie auch Geräusche auf wie das des Absetzers aus dem aktiven Tagebau | |
| nebenan, der uns auch hier am See noch ein Sirren hinterherschickt? | |
| Weisshaar: Ich habe oft ein kleines Notizbüchlein dabei. Fotografieren | |
| alleine reicht nicht, um das festzuhalten, was man sieht. | |
| taz: Jetzt sind wir um den See herum und stoßen wieder auf die | |
| Birkenallee. Wäre es nach 30 Jahren nicht an der Zeit zu sagen: Ich bilde | |
| auch andere Spaziergangsforscher aus? Das, was Sie von Lucius Burckhardt | |
| gelernt haben, können ja Jüngere auch von Bertram Weisshaar lernen. | |
| Weisshaar: Vor einigen Jahren war das Gehen auch in der Kunst sehr populär. | |
| Die Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel hatte mich | |
| fünfmal für ein Seminar gebucht. Und da war eine Teilnehmerin dabei, die | |
| nun in Zürich eine Akademie für Gehkultur betreibt. | |
| taz: Zum 30. Jubiläum Ihres ersten Spaziergangs durch einen Tagebau soll im | |
| Herbst ein Buch entstehen. Der Titel: „Letzte Kohle. Andere Landschaften.“ | |
| Was ist Ihre Botschaft? | |
| Weisshaar: Spätestens 2038 wird in Deutschland der letzte Tagebau | |
| stillgelegt. Damit verändert sich auch die Perspektive auf diese | |
| spezifische Landschaft. Denn es kommen keine weiteren Tagebaue hinterher | |
| wie in den letzten 120 Jahren. Die Frage, wie wir die | |
| Bergbaufolgelandschaften gestalten, stellt sich somit noch einmal ganz | |
| anders. | |
| taz: Wie beantworten Sie diese Frage? | |
| Weisshaar: Meine Meinung ist, dass das eine ganz besondere Landschaft | |
| werden muss. Diese Landschaft muss eine kulturelle Antwort auf dieses | |
| Epochenende sein, das der Kohleausstieg bedeutet und gleichzeitig eine | |
| Brücke in die Zukunft. Es muss eine Landschaftserfindung sein wie | |
| seinerzeit der Park Sanssouci oder das Gartenreich in Wörlitz. | |
| taz: Ganz schön hoch, die Latte, die Sie da hängen. | |
| Weisshaar: Deshalb ist es wichtig, jetzt die Diskussion anzustoßen. Wir | |
| haben jetzt noch etwas mehr als zehn Jahre Zeit. Wenn man erst damit | |
| beginnt, wenn der letzte Bagger abgeschaltet ist, ist es zu spät. | |
| 4 Oct 2025 | |
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| Uwe Rada | |
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