# taz.de -- Fußgänger:innen in Städten: „Eine charmante Spezies“ | |
> Fußgänger:innen sollen in Braunschweig angenehmer von A nach B | |
> kommen. Die Stadt macht deshalb bei einem Modellprojekt mit. | |
Bild: Friedvoll weil autofrei: Fußgänger:innenzone in der Braunschweiger Inne… | |
BRAUNSCHWEIG taz | Auch in Braunschweig gibt es die üblichen | |
Wohlstandsprobleme im Straßenverkehr – allabendlich zugeparkte Wohnviertel | |
zum Beispiel. Aber anders als etwa in der ewigen Rivalenstadt Hannover | |
entschied sich die Stadt Braunschweig nach Kriegsende gegen einen radikal | |
autogerechten Wiederaufbau – und davon profitiert heute der Verkehrsmix. | |
Insgesamt gedeihen ÖPNV, Auto, Fahrrad und Fußgänger:innen in einer | |
recht friedlichen Koexistenz. | |
Problematische, verkehrskollabierende Durchfahrtsschneisen gibt es in | |
Braunschweig eigentlich nicht, selbst wenn manch einem vielleicht der | |
Bohlweg, an dem das zum Einkaufszentrum wiederaufgebaute Schloss liegt oder | |
die Georg-Eckert-Straße, auf der sowohl Straßenbahnen als auch Autos | |
fahren, dazu zu tendieren scheinen. | |
Trotzdem möchte die Stadt noch attraktiver für [1][Fußgänger:innen] | |
werden und wird Teil eines Modellprojekts. Initiator ist der Fachverband | |
Fußverkehr Deutschland, kurz FUSS. Außer Braunschweig sind auch Erfurt, | |
Flensburg, Meißen und Wiesbaden Modellstädte. | |
Mittlerweile ist eine dritte Auflage des [2][Projekts „Gut gehen lassen – | |
Bündnis für attraktiven Fußverkehr“] an den Start gegangen, neuerlich mit | |
einer Laufzeit von zwei Jahren und vom Bundesministerium für Umwelt, | |
Naturschutz und nuklearer Sicherheit sowie dem [3][Umweltbundesamt] | |
gefördert. | |
Der bundesweit seit den 1980er-Jahren aktive [4][Verein FUSS] versteht sich | |
als Lobby der Fußgänger:innen, selbst wenn der Leipziger Ortsvertreter | |
Bertram Weisshaar im Namen der Berliner Zentrale den naheliegenden | |
Vergleich mit dem ADAC nicht so gerne hört. Fußgänger:innen, sagt | |
Weisshaar, seien eine charmante Spezies, die kein großes Aufhebens machten | |
um die Hindernisse, die sich im städtischen Alltag stellen – und deshalb zu | |
wenig beachtet würden. | |
Wer als Braunschweiger:in aber nun hofft, das Programm möge beliebte | |
Wohnbereiche wie das östliche und das westliche Ringgebiet oder gar die | |
Innenstadt in ihren fußläufigen Qualitäten, möglichen Mängeln und | |
Verbesserungspotenzialen inspizieren, wird enttäuscht. Auserkoren wurde der | |
Stadtteil Wenden, im Norden von Braunschweig gelegen und, durch die | |
Autobahn A2 abgetrennt, in periphere Distanz gerückt. | |
Vor Ort kursiert ja der Witz, dass ahnungslose Autofahrer:innen den | |
Stadtteil nie erreichen, da sie das Ortsschild als Aufforderung zum | |
Umdrehen missverstehen. Busse und eine Straßenbahnlinie allerdings | |
erreichen ihn zuverlässig. Angekommen, bewegt man sich im Wesentlichen auf | |
der Hauptstraße oder verliert sich in abzweigende Wohngebiete, also | |
insgesamt auch keine angespannte Verkehrssituation. | |
Dort gesammelte Erkenntnisse, teilte die [5][Stadt Braunschweig] mit, | |
sollen für eine weitere Untersuchung des Stadtteils Rautheim, nicht minder | |
peripher südöstlich der Kernstadt durch die A 39 isoliert, „mitgenommen | |
werden“. | |
Bis Anfang 2023, so von offiziellen Seiten weiter, wird es in den | |
Modellstädten strategische Gespräche mit der Stadtverwaltung, einen | |
Workshop, einen [6][Fußverkehrs]-Check, eine Aktion auf der Straße und eine | |
Begehung mit der Kommunalpolitik geben. Zudem werden engagierte | |
Bürger:innen für ihren Stadtteil als „Quartiers-Geher:innen“ gesucht. | |
Die gesammelten Erkenntnisse will der Verein der Kommune dann Anfang | |
nächsten Jahres in einem Katalog übergeben. In Braunschweig werden sie in | |
einen Mobilitätsentwicklungsplan einfließen, den der kommunale | |
Verwaltungsausschuss im Juni 2019 beschloss. Er ist Bestandteil des | |
Integrierten Stadtentwicklungskonzeptes ISEK, das bis 2030 die Umsetzung | |
diverser identifizierter Entwicklungsvorhaben sicherstellen soll. | |
Braunschweig hat darin die Absicht erklärt, Maßnahmen im Fußverkehr | |
umzusetzen. | |
Aber ist dieser bürokratische Bohei für eine so naheliegende Sache wie | |
brauchbare, sichere und instandgehaltene Fußwege überhaupt angemessen? | |
Eigentlich ist doch alles recht einfach. Schon seit längerem hat sich die | |
Stadtplanung von der Ideologie einer autogerechten Stadt verabschiedet. | |
In [7][Hannover] etwa begreift man das Erbe der Nachkriegszeit, nämlich die | |
breiten innerstädtischen Durchfahrtstraßen, nun als Chance. Lassen sich | |
jetzt doch prima einzelne Fahrspuren zu geradezu luxuriösen Radfahrwegen | |
umfunktionieren. Mit rotem Asphaltbelag und definierten Übergängen | |
behaupten sie sich selbstbewusst an einer der größten Kreuzungen im Zentrum | |
der Stadt, dem Aegidientorplatz, – ein Beitrag zur Verkehrswende, | |
zweifellos. | |
Das reicht aber nicht, meint der von der Süddeutschen Zeitung als | |
„Fußgängerpapst“ titulierte, weltweit tätige Stadtplaner, der Däne Jan | |
Gehl. Gerade Fußgänger seien essenziell für eine Stadt, denn sie seien das | |
menschliche Maß, waren die Grundlage traditioneller Stadtplanung. | |
Historische Plätze etwa sind so groß, wie das Auge reicht: 100 Meter – „d… | |
soziale Horizont“. | |
Weisshaar sieht derzeit zwar das Zu-Fuß-Gehen im Aufwind, besonders seit | |
den Corona-Lockdowns. Viele Menschen schätzten den gesundheitlichen Aspekt, | |
stiegen nun drei Haltestellen vorher aus, um ihr tägliches Schrittpensum zu | |
erledigen. Aber eine echte Verkehrswende müsse alle Mobilitätsformen | |
einbeziehen, stets zu Lasten des motorisierten Individualverkehrs – und | |
gute Formen des Miteinanders schaffen, möchte man als leidgeprüfte | |
Stadt-Fußgängerin selber hinzufügen. | |
## Problematische Monster-Lastenräder | |
Eine „urbane Seuche“, so sagt es der Verein FUSS, sei auch das | |
Fahrradfahren auf Gehwegen. Ein lange mit Scheu behandeltes Thema, wie | |
Weisshaar es ausdrückt, da Radfahrer:innen eigentlich die natürlichen | |
Verbündeten der Fußgänger:innen sein sollten. Nicht auszudenken, wenn | |
demnächst eine neue Generation Monster-Lastenräder – natürlich mit | |
Elektroantrieb – in die Städte schwappt! | |
Aber zu Fuß gehen ist mehr als eine Form funktionaler Mobilität zwischen | |
Punkt A und Punkt B. Bleibt zu hoffen, dass bei all den Programmen, | |
Förderungen oder Maßnahmen wie etwa eines „Premium-Wege-Netzes“ gemäß | |
Braunschweiger ISEK die eigentliche Qualität des Gehens nicht vergessen | |
wird: Sie ist nämlich philosophisch intellektueller Natur. | |
Der österreichische Literat Thomas Bernhard brachte es bereits 1971 in | |
seiner Erzählung „Gehen“ auf den Punkt: „Wir gehen mit unseren Beinen, | |
sagen wir, und denken mit unserem Kopf. Wir könnten aber auch sagen, wir | |
gehen mit unserem Kopf.“ | |
10 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Fussgaenger/!t5010629 | |
[2] https://fussverkehrsstrategie.de/8-fussverkehrsstrategie/102-gutgehenlassen… | |
[3] https://www.umweltbundesamt.de/das-uba/was-wir-tun/foerdern-beraten/verbaen… | |
[4] https://www.fuss-ev.de/ | |
[5] /Braunschweig/!t5018489 | |
[6] /Bilanz-nach-1-Jahr-Fussverkehrsgesetz/!5827445 | |
[7] /Hannover/!t5008211 | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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