Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die besondere Reise: Die Welt in Hellabrunn
> Reisen mit dem Finger auf den Landkarten. Königreich der Fantasie. Eine
> Kindheit zwischen Schuttberg und Zaubergarten.
Bild: Die Welt ist bunt..
Berg mit S … Berg mit S? Berge waren am schwierigsten. Sydney und Schweden
brachte ich im Nu zu Papier, auch der Sambesi floss mir nur so zu. Doch ein
Berg? Selbst eine Dehnung der Regeln half nicht weiter: Gebirge mit S?
Wenn überhaupt, so blieb meist das Berg-Feld leer bei diesem familiären
Ratespiel, dem ich eifrig frönte, gewann ich beim „Stadt, Land, Fluss“ doch
deutlich häufiger als beim Monopoly oder gar beim Schach. Denn in der Welt,
da kannte ich mich aus. Früh schon hatte ich den Diercke von vorne bis
hinten studiert, um nicht zu sagen verschlungen.
Ich war geografisch, so wie andere musikalisch waren. Das fing mit sieben
an und trägt bis heute weiter. Schlug man das mahagonibraune,
stoffbespannte Kartenwerk auf, öffnete sich die Welt. Die Tiefebenen
leuchteten frühlingsgrün, die Flüsse kobaltblau, die Gletscher silbrig, die
Gebirgszüge rotbraun schraffiert. Und überall Namen, Namen, Namen, die ich
begierig aufsog: Isfahan, Halifax, Osaka, Monrovia, Tegucigalpa, Lourenço
Marques.
Ich genoss es, die Familie mit diesen Kenntnissen zu verblüffen oder auch
Nachbarskinder, die doppelt so alt waren wie ich, aber noch nie von Celebes
gehört hatten. Der Atlas war kein Buch, schon gar kein Unterrichtsmaterial,
es war ein Freund. Ich besitze ihn bis heute, er ist so alt wie ich.
„Stadt, Land, Fluss“. Ein Mitspieler buchstabierte in Gedanken das Alphabet
durch, ein anderer rief „Stopp!“, und schon war man auf Weltreise. Der
lautlose Ritt durchs Abc und die Landung auf einem neuen, verheißungsvollen
Buchstaben hatten einen ähnlichen Effekt wie heutzutage ein Nachtflug nach
Singapur. Ich kannte die Gegebenheiten umso besser, je weiter entfernt sie
lagen und je unerheblicher sie für die Orientierung im Alltag waren. Die
Salzach kam später ins Repertoire als der Sankt-Lorenz-Strom, und bis heute
besitze ich eher undeutliche Vorstellungen davon, wo Osnabrück oder
Pirmasens liegen.
Lediglich unser Hausfluss, [1][die Isar], bildete zusammen mit weiteren
bayerischen Fließgewässern eine Ausnahme, deckte eine bewährte Eselsbrücke
doch gleich sechs Anfangsbuchstaben ab, das I sogar mehrfach: „Iller, Lech,
Isar, Inn / fließen rechts zur Donau hin. / Wörnitz, Naab und Regen /
fließen ihr entgegen.“
Herbert Riehl-Heyse schrieb dem Reporter einmal ins Stammbuch, er sei, wie
jeder Mensch, dazu verpflichtet, seine Mythen einzuholen. Doch Fernreisen
waren in jenen Jahren ein seltenes Privileg, und da ich in bescheidenen
Verhältnissen aufwuchs, war ich davon überzeugt, dass es in meinem Fall bei
Fantasiereisen bleiben würde.
Die erste echte Auslandsfahrt stand mit fünfzehn an, die obligatorischen
Familienferien an der Adria. Vorausgegangen war lediglich ein Tagesausflug
nach Kufstein, welcher dem Bestaunen der Festung und des grünen Inns
gegolten hatte, vor allem aber dem Erwerb einer österreichischen
Spezialität, woraufhin unsere Mutter dann sonntags feierlich ein Löffelchen
achtzigprozentigen Stroh-Rum in den Tee träufelte.
Berg mit S? Noch immer klaffte das Feld leer. Ich trug schließlich
„Schuttberg“ ein, was nach einiger Diskussion gnädig akzeptiert wurde. Denn
nicht irgendeiner war gemeint, sondern der Schuttberg, eine stattliche
Erhebung, die beinah in Sichtweite unseres Balkons aufragte. Die Rede ist
von jenem Trümmerberg auf dem Oberwiesenfeld im Münchener Norden, der
immerhin so hoch war, dass er ein Gipfelkreuz trug, und der sich wenig
später als „Olympiaberg“ einen Namen machen sollte. Freilich dann einen mit
O. Gleich mal merken!
## Die Euphorie der Abwesenheit
Was damals verwegene Verheißung war, erfüllte sich später dann doch. Ich
buchstabierte Städte, Länder und Flüsse reisend durch, als fände das Spiel
nun im wirklichen Leben seine Fortsetzung. Jedes Mal beunruhigt vom
Aufbruch ins Unbekannte, doch jedes Mal auch berauscht von euphorischer
Abwesenheit, von Fliehkraft und Fernwohl.
Einen Ort freilich gab es, der noch im Stadtgebiet eine Weltreise verhieß:
den Tierpark [2][Hellabrunn]. Meist für die Ferien aufgespart, geriet der
Besuch dort stets zum Feiertag für mich. Bereits in den zwanziger Jahren
hatte Heinz Heck ihn als Geo-Zoo angelegt, gegliedert nach Erdteilen und
Lebensräumen und nicht, wie bis dahin üblich, als ein begehbares
Nachschlagewerk nach Art der zoologischen Sammlungen und Lehrbücher: hier
alle Katzen, dort alle Huftiere, dort alle Vögel.
Hellabrunn dagegen versammelte die Tiere in Wohngemeinschaften, die ihren
natürlichen Habitaten nachgebildet waren. So behauste die Südamerika-Anlage
Wasserschweine, Pampashasen, Ameisenbären und Nandus; nur die Jaguare
blieben außen vor. Der Gang zu Känguru und Emu ersetzte eine
Weltumsegelung, der Anblick der Zebras, Gnus und Antilopen geriet zur
Stippvisite in der Serengeti, und der Abstieg ins Souterrain des Aquariums
glich einem Tauchgang in die Tiefsee. Im „Urwildpark“ kam zur Weltumrundung
noch eine Zeitreise hinzu, auf der einst heimische, doch längst
verschwundene und teilweise gänzlich ausgestorbene Großtiere wieder
lebendig wurden. Neben Wisenten und Przewalskipferden präsentierte er auch
rückgezüchtete „Auerochsen“ und „Tarpane“.
Wandelnde Verlustanzeigen, traten sie als Zeugentiere gegen unsere
opportunistische Vergesslichkeit auf. Hellabrunn nahm „Jurassic Park“
vorweg. Und wäre dort nicht mittlerweile eine interne
Kontinentalverschiebung im Gange – der Parkteil „Afrika“ wandert in den
bisherigen Parkteil „Europa“ –, ich fände die Anlage noch heute mit
verbundenen Augen. Ein Defilee auf verschlungenen Wegen, über Brücken und
Inseln hinweg, vorbei am Steinbock, vorbei am Wolf, untermalt von den
blechernen Rufen der Kormorane und Gänse, welche die Gehege als freilebende
Beigaben bereicherten.
Wenn es im Herzen Europas eine Landschaft gibt, die auf exotische
Waldwildnis einzustimmen vermag, die vorgeburtliche Umschlossenheit gewährt
und amphibische Labyrinthe birgt, so sind es die Isarauen um München.
[3][Ein Mato Grosso im Alpenvorland]. Hellabrunn liegt an einem Altarm,
eingefasst von steilen Ufern. Unten in der Senke führte die Pforte hinein
in ein geheimnisvolles Reich. Auch jedes einzelne Tier dort barg ein
Geheimnis; nie konnte ich genug bekommen von all der rätselhaften Schönheit
und Andersartigkeit, die hier versammelt war.
Doch auch ohne den Zoo bilden die Isarauen ein bedeutendes Habitat. Hier
leben, noch im Stadtgebiet, Uhu und Eisvogel, Ringelnatter und Kreuzotter,
Prachtlibelle und Schillerfalter. Im Fluss tummeln sich Urviecher wie der
Biber oder der Huchen, ein dreißig Kilo schwerer Salmonide.
Im Herbst 2018 kreuzte gar ein Pelikan stoisch vor der Praterinsel, just
vis-à-vis des Bayerischen Landtags. Handelte es sich um einen weiteren
Vorboten des Klimawandels? „Sieh da! Sieh da, Timotheus!“ Zwar stellte sich
dann heraus, dass er einem Tiroler Zoo entflogen war, doch auch ihm war die
städtische Auenlandschaft einladend erschienen. Thomas Manns ungewohnte
Liebeserklärung an die Isarauen gilt bis heute: „Das ist kein Wald und kein
Park, das ist ein Zaubergarten.“
Auch die Isar selbst ist Wildnis: Isaria, die Reißende – ein Sturzbach vom
Kaliber eines Stroms. Im Stadtgebiet war sie freilich durch Befestigungen
und Stauwehre gehörig an die Kandare genommen worden. Doch inzwischen hat
München erfolgreich versucht, diesen letzten deutschen Wildfluss
zurückzugewinnen und seine Domestikation so weit wie möglich rückgängig zu
machen. Wildnis hat Konjunktur. Aus ödem Gerinne wurden wieder weite
Schleifen, aus reizlosen Hochwasserwiesen artenreiche Biotope. Im Herzen
der Stadt bildete die urbane Feuchtsavanne des Englischen Gartens seit je
den Inbegriff Münchner Lebensart.
## Urlandschaft mit Nudisten
Und dann war da noch die Pupplinger Au: ein berüchtigtes, zugleich
verstörendes und verlockendes Nacktbaderevier, verteilt über zahllose
Kiesbänke und abgeschirmt von einem Dickicht aus Erlen, Weiden, Tamarisken.
Eine Landschaft im Fluss. Beständig verlagert die Isar hier ihr Geschiebe
und sucht sich immer wieder neue Wege im alten Bett. Nach einem Hochwasser
findet sich ein Strommast schon mal am linken statt am rechten Ufer wieder.
Klopfenden Herzens betraten wir Kinder diese Urlandschaft, in der
eingeengte Städter ihre Auswilderung betrieben. Wir aber pirschten auf die
eigentlichen Attraktionen der Au – Smaragdeidechsen, Schwalbenschwänze,
Grünspechte. Und einen Schwarzstorch auf der Durchreise. Für ein paar
kostbare Stunden offenbarte Hellabrunn damals die Welt.
Später, erheblich später, doch ein jegliches hat seine Zeit, bei den Bären
in der jakutischen Taiga etwa oder bei den Urwaldriesen am Ufer des Ubangi,
oder bei den Walrossen, die auf Eisschollen durch eine Arktis trieben, die
Französisch sprach, später dann, bei den wogenden Bisonherden in Süd-Dakota
oder den Pelikanen auf den großen Balkanseen, die sich nicht etwa verflogen
hatten, sondern seit Jahrzehntausenden dort heimisch waren, oder damals, im
schwerelosen Taumel an den Riffen vor Celebes, oder unlängst bei den
Wildpferden in der dsungarischen Gobi – da war die Welt wie Hellabrunn.
Man konnte sogar, nun schon für kostbare Tage und Wochen, mitten darin
übernachten. Und vernahm dann das Heulen der Wölfe im Yellowstone, lauschte
dem Dschungel am Río Pastaza, wo es in allen Tonlagen zirpte, trällerte,
gluckste und klopfte, verfiel dem Sirenengesang der letzten Gibbons in den
Bergen von Yunnan, einem Flehen hoch in den Wipfeln, und spürte die Erde
erzittern, als die Nilpferde am Manyara-See sich zwischen den Zelten
hindurch in die Büsche schlugen.
21 Feb 2021
## LINKS
[1] /Wasserkraftwerke-in-Fluessen/!5743116
[2] /Homosexualitaet-im-Tierreich/!5611808
[3] /Sanfter-Tourismus/!5663951
## AUTOREN
Stefan Schomann
## TAGS
Reisen
München
Zoo
Welt
Kunst
Tourismus
Navigationshilfe​
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kunstprojekt aus Berlin: Gast an unbekanntem Ort
Das Bedürfnis nach Abwechslung befriedigen, die Neugierde wecken und
Achtsamkeit üben: Die Künstlerin Stefie Steden organisiert „Zimmerreisen“.
Tourismuspolitik zu Coronazeiten: Und was ist mit Reisen…?
Der Lockdown trifft die Tourismusbranche hart. Er erweitert aber auch den
Blick auf neue Strukturen für ökologisches und erdgebundenes Reisen.
Digital unterwegs: Moderne Nomaden
Der Kapitalismus hat sich selbst das Aussteigen einverleibt. Dauerreisende
irgendwo zwischen Modeln, bezahlter Selbstdarstellung und Bio Food.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.