# taz.de -- Tourismuspolitik zu Coronazeiten: Und was ist mit Reisen…? | |
> Der Lockdown trifft die Tourismusbranche hart. Er erweitert aber auch den | |
> Blick auf neue Strukturen für ökologisches und erdgebundenes Reisen. | |
Bild: Der anhaltende Lockdown wirkt sich auf die Reisebranche an vielen Stellen… | |
taz: Herr Tressel, anhaltender Lockdown. Wie geht es der Reisebranche | |
damit? | |
Markus Tressel: An vielen Stellen, besonders bei den Veranstaltern und bei | |
den Leistungserbringern vor Ort sieht es katastrophal aus. Bei den | |
Veranstaltern und im Vertrieb ist es extrem schwierig, weil sie keine | |
Planungsperspektive haben. Aber auch in vielen Destinationen führt das | |
lange Schließen von Hotels, Gastronomie und anderen Leistungserbringern | |
viele an den Rand der Existenzbedrohung oder darüber hinaus. Die | |
Reisebranche ist neben der Kultur und dem Handel vom Lockdown am stärksten | |
betroffen. | |
Welche Hilfen gibt es konkret? | |
Es gibt ja diverse Hilfszusagen des Bundes und der Länder, von den Sofort- | |
über die Überbrückungs- bis zu den November- oder Dezemberhilfen. Das | |
Problem ist weniger die Höhe, sondern die Frage, wie gut, in welchem Umfang | |
und vor allem wie schnell kommen die Betroffenen an das Geld. Die | |
Bundesregierung hat das zum Teil nicht niedrigschwellig organisiert, | |
kompliziert und für Laien undurchschaubar gemacht. Das ist vielfach mit | |
heißer Nadel gestrickt worden und ich befürchte, dass einige Unternehmen | |
das Eintreffen des Geldes nicht mehr erleben werden. | |
Also ein Bürokratie-Problem? | |
Zum Teil, aber auch ein Problem aufgrund der Komplexität z. B. des | |
Steuerrechts. Da hätte man viel früher und stärker mit den Betroffenen, den | |
Verbänden ins Gespräch kommen müssen, um mit einem höheren Einsatz zu | |
praktikableren Lösungen zu kommen. Im ersten Lockdown hat die | |
Bundesregierung ja monatelang gebraucht, um überhaupt die Notlage der | |
Branche zu erkennen. | |
Man hört ja wenig von den Verbänden. | |
Ja, nach außen hin ist das sicher so, aber mein Eindruck ist, dass die alle | |
sehr intensiv daran arbeiten, die Bundesregierung da in die richtige | |
Richtung zu bewegen. Das ist ein logistischer Großakt für beide Seiten. Die | |
Verbände versuchen jetzt im Hintergrund an der einen oder anderen Stelle | |
noch einmal Anpassungen zu erreichen. Aber ich glaube, ohne die | |
touristische Basisbewegung im Sommer, als die Reisebüros und etwa die | |
Busreisebranche auf die Straße gegangen sind, wäre die Not der Branche | |
nicht mit der notwendigen Wucht bei der Bundesregierung angekommen. | |
Wirkt sich die Krise auf die Regionalentwicklung aus? | |
Das hängt sehr davon ab, wie stark die Regionen vom Tourismus leben. Es gab | |
in Deutschland ja Destinationen, die im Sommer sehr frequentiert waren und | |
auch profitiert oder zumindest nicht so stark wie erwartet verloren haben. | |
Viele konnten aber natürlich bei Weitem ihre Potentiale nicht ausschöpfen. | |
Mengenbegrenzung und Abstandsgebot haben da das Ihre getan. Deshalb ist es | |
extrem wichtig, jetzt die richtigen Schlüsse zu ziehen und die nationale | |
Tourismusstrategie zum Abschluss zu bringen, auch mit Schlussfolgerungen | |
aus der Pandemie. | |
Also sehen Sie auch eine Chance für die Regionen? | |
Ich glaube, perspektivisch kann die Coronakrise vielen Regionen helfen, | |
weil viele Leute jetzt den Nahbereich entdecken. Das wird manche Regionen | |
stärken, weil man jetzt eben auch in Regionen fährt, die früher nicht als | |
typische Urlaubsziele galten. Und da wurden jetzt oft mit viel Kreativität | |
neue Angebote entwickelt. Ein Problem ist durch die lange Lockdown-Phase, | |
dass vielerorts das Personal abspringt. Viele, die normal in der | |
Gastronomie arbeiten, überlegen, ob sie die Branche wechseln, weil sie | |
Planungssicherheit brauchen. Da müssen wir schnell etwas tun. | |
Aber Gastronomie und Hotellerie hatten schon vor der Krise | |
Nachwuchsprobleme? | |
Das stimmt, aber die drohen sich jetzt zu verstärken, und ohne ausreichend | |
vorhandenes Fachpersonal keine qualitative Weiterentwicklung des Tourismus. | |
Die Verantwortlichen vor Ort haben jetzt die Chance, die Regionen bei | |
Bedarf auch neu zu positionieren. Aber dafür muss man zunächst Strukturen | |
und Fachkräfte retten, deshalb ist es wichtig, dass jetzt Gelder fließen | |
und Perspektiven entstehen. Denn wenn die Krise abklingen wird und die | |
Menschen wieder reisen wollen, dann braucht es auch Strukturen dafür. Wir | |
müssen nun auf Qualifizierung und Weiterentwicklung und Verbesserung | |
setzen. Nachhaltigkeit, Vernetzung und gute Arbeitsbedingungen müssen dabei | |
eine wichtige Rolle spielen. | |
Europaweit, wo seit fast einem Jahr die große Masse der Reisenden fehlt? | |
In viele Regionen, die bisher überwiegend von Tourismus gelebt haben und wo | |
das soziale Netz schwächer ist, da wird die Entwicklung sicherlich soziale | |
Verwerfungen hervorrufen. Diese Regionen darf man nicht hängen lassen. Man | |
braucht aus meiner Sicht eine europäische Strategie, um mit diesen Fragen | |
umzugehen. Ich denke, wir müssen Tourismuspolitik europäisch deutlich | |
stärker machen. Heute wurschteln viele für sich. Aber auch hier müssen wir | |
stärker das Ganze sehen, auch ökonomisch begründet. | |
Was wäre eine europäische Strategie? | |
Eine europäische Strategie, die den neuen Bedingungen Rechnung trägt: | |
Social distancing und gute Hygienestandards, eine höhere Nachfrage nach | |
erdgebundenem Reisen, ein europaweites Zugnetz. Letzteres hat man bereits | |
begonnen angestoßen. 2021 soll ja das europäische Jahr der Schiene werden. | |
Die Erreichbarkeit der Destinationen mit der Bahn muss deutlich verbessert | |
werden. Auch die Erschließung von Regionen, die bisher nicht als | |
touristisch galten, muss stärker in den Fokus rücken, um die Gäste klüger | |
zu verteilen, mehr Wertschöpfung vor Ort zu organisieren, ohne aber | |
einzelne Regionen zu überlasten. Dazu gehört auch eine europäische | |
Strategie, wie man Regionen bei diesen Bemühungen finanziell, etwa mit den | |
Kohäsionsfonds der EU, unterstützt. | |
Gibt es einen politischen Willen zur Umgestaltung? | |
Einige Regionen werden sich neu erfinden nach dieser Krise. Ich sehe in | |
vielen Regionen Aktivitäten der Tourismusorganisationen, aber auch | |
Graswurzel-Bewegungen schließen sich zusammen und suchen, wie man die Krise | |
nutzen kann. Wir haben jetzt ein Fenster, in dem die Leute darüber | |
diskutieren, wie kann man klimaverträglich reisen, wie kann man auch so | |
verreisen, dass es den Regionen zugutekommt. Overtourism ist im Moment kein | |
Thema mehr. Auf der ganzen Welt hat die Tourismusbranche eine Vollbremsung | |
gemacht. Das ist ein Problem für die Wirtschaft und für viele Regionen, es | |
ist aber auch die Möglichkeit zu überlegen, wie wollen wir in Zukunft | |
Tourismus gestalten. Ich hoffe, dass dieser Impuls angenommen wird. | |
Wie sieht es konkret aus mit einem transeuropäischen Zugnetz? | |
Was mich ein wenig optimistisch stimmt, ist, dass es nicht nur in | |
Deutschland Thema ist, sondern auch bei unseren europäischen Nachbarn. Wir | |
hätten jetzt die Chance, diesen Bewusstseinswandel in Politik umzusetzen. | |
Und es gibt auch mehr Druck auf die Politik, weil auch mehr Leute | |
nachfragen. Als die österreichische Bundesbahn den Nachtzugverkehr | |
übernommen hat, glaubte keiner an den Erfolg. Jetzt sehen wir, dass die | |
österreichische Bundesbahn damit offenbar Geld verdient und ein gutes | |
Angebot etabliert hat. Die Krise hat den Verbrauchern gezeigt, dass man mit | |
erdgebundenem Reisen einen tollen Urlaub machen kann. Und dass die Anreise | |
möglicherweise schon Teil des Urlaubs ist. Das wird nicht morgen 90 Prozent | |
der Reisen betreffen, aber es zeigt, dass es sich lohnt, ein gutes | |
Nachtzugnetz auszubauen. | |
Und derweil warten viele Verbraucher nach den staatlichen Hilfen für die | |
Airlines auf die Rückerstattung ihrer nicht stattgefundenen Flugreisen… | |
Wir haben bei der Bundesregierung darauf gedrängt, dass staatliche Hilfen | |
auch an Bedingungen geknüpft werden und dass vor allem | |
Verbraucher*innen zu ihrem Recht kommen müssen. Aber viele Airlines | |
haben sich gemessen an den Beschwerden viel Zeit gelassen, sicher auch, | |
weil sie ihre Liquidität bewahren wollten. Die Krise war insbesondere zu | |
Beginn ein verbraucherpolitisches Fiasko und hat gezeigt, dass wir bei | |
Verbraucherrechten in der Folge auch nochmal genauer hinschauen und im | |
Zweifel Unklarheiten beseitigen müssen. | |
Und die Großen wie TUI? | |
Die werden es möglicherweise in der Zukunft schwerer haben, je nachdem wie | |
lange diese Krise ihr Kerngeschäft beeinträchtigen wird. Die TUI hat fast 5 | |
Milliarden Euro Staatshilfe in unterschiedlicher Form seit Beginn der Krise | |
bekommen. Aber die Krise wird nicht morgen vorbei sein und das | |
beeinträchtigt natürlich die Fähigkeit der Großkonzerne, die viele | |
kostspielige Strukturen über die Krise bringen müssen, Schulden auch wieder | |
abzubauen. Ihr Geschäftsmodell ist nun mal der Massentourismus. | |
Hat der eine Zukunft? | |
Ich glaube, wir werden in Zukunft individueller reisen, mittelfristig wird | |
das sicher eine Folge der Pandemie, aber auch der Klimakrise sein. Es wird | |
weiterhin Pauschalreisen geben, weil es eine bequeme und sichere Variante | |
ist, möglicherweise wird man da auch andere Angebote entwickeln müssen. | |
Aber auch die Digitalisierung hilft der Individualisierung. Also: Die | |
Pauschalreise wird sicher ein wichtiges Segment bleiben, aber das | |
klassische Geschäftsmodell aus den 70er und 80er Jahren wird sich verändern | |
müssen. | |
Die neuen Player wie Airbnb haben einen entscheidenden Vorteil, sie haben | |
keine eigenen Hotels, kaum Angestellte, keine Airline, keinen | |
Riesenapparat. | |
Ja, deswegen glaube ich, dass diese plattformbasierten Modelle auch nach | |
der Krise weiter an Kraft gewinnen, weil sie sich u. a. schneller auf neue | |
Lagen einstellen können. Die Marktmacht dieser Plattformen muss man sich | |
aber auch in Zukunft durchaus kritisch anschauen. Aber ich glaube auch, | |
dass Familienbetriebe sich –trotz aller Schwierigkeiten- leichter auf die | |
Folgen der Krise einstellen können. Sie sind flexibler, wenn wir sie jetzt | |
auch gut über die Krise bringen. | |
Was wird aus der Kreuzfahrt, die der boomende Bereich im Tourismus war? | |
Da haben wir jetzt erstmal große Kapazitäten im Markt und weniger Menschen, | |
die diese auf absehbare Zeit nutzen wollen. Wir sehen jetzt vereinzelte | |
Ausflottungen von alten Schiffen und auch Insolvenzen bei den Anbietern. Ob | |
die Kreuzfahrt in den nächsten Jahren wieder so stark kommt, wie es einmal | |
vor der Krise war, da mache ich drei Fragezeichen. Verbraucherverhalten und | |
Nachfrage könnten sich auch hier durch die Krise verändern. Hinzu kommt | |
nach wie vor der negative ökologische Fußabdruck dieser Reiseform. Die | |
Klimadebatte hat einige Kreuzfahrer ins Nachdenken gebracht. Vielleicht ist | |
diese Krise aber auch für die Kreuzfahrt eine Chance –im Rahmen ihrer | |
Möglichkeiten- ökologisch und ökonomisch nachhaltiger zu werden. | |
15 Feb 2021 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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