# taz.de -- Unterwegs in Europa: Kultur auf dem Weg | |
> Pilger, Soldaten, Händler oder Seeleute: Alle bahnten sich ihre eigenen | |
> Wege durch Europa. Die Kulturrouten folgen den historischen Pfaden. | |
Bild: Ein Eisenwerk im tschechischen Ostrava | |
Gleich die erste vom Europarat proklamierte Europäische Kulturroute war ein | |
Erfolg. Es war der spanische Jakobsweg Camino de Santiago. Im Jahr 1987, | |
als die Kulturrouten ins Leben gerufen wurden, kannte kaum jemand diesen | |
mittelalterlichen Weg. Noch keine 3.000 Pilger und Wanderwillige mit | |
Rucksack kamen seinerzeit in Santiago an und holten sich ihren | |
Pilgernachweis, die Compostela. 2019, dem letzten Jahr vor [1][der | |
Covid-19-Pandemie, die alles lahmlegte], waren es genau 347.578 Menschen. | |
Und es waren Menschen aus aller Welt. | |
Eher unvermutet war der Europarat in einen Boom gestolpert von Bedürfnissen | |
nach Spiritualität und Authentizität und einem anderen Reisen, die diesen | |
alten Sehnsuchtsweg bis ans Ende der damaligen Welt wiederbelebten. Aus | |
alter Religiosität wurde moderner Kult. Bereits 1992 kürte die Unesco den | |
Camino de Santiago zum Weltkulturerbe. | |
Der Europarat setzte vielmehr auf die Idee Europa und europäische Ideale | |
und hielt den Camino de Santiago deshalb für beispielhaft, weil er (so die | |
Deklaration) „höchst symbolisch für den europäischen Entwicklungsprozess“ | |
und eine „kulturelle Identität“ stehe, die „seit eh und je aus der Exist… | |
eines europäischen Raumes voller gemeinsamer Erinnerungen und durchzogen | |
von Wegen, die die Entfernungen, die Grenzen und die Sprachbarrieren | |
überwinden“, entstanden sei. Er sollte den Referenzpunkt für weitere | |
Aktivitäten bilden. | |
Ein Weg wie der Camino brachte Menschen zusammen. Schon im frühen | |
Mittelalter. Sieht man sich das Netzwerk der Jakobswege an, die heute | |
wieder ausgewiesen und auf Landkarten zu finden sind, so wirkt es wie ein | |
großes, europaweites Geflecht aus Adern, das hinter Pamplona zu einer | |
dicken Arterie wird. Als führten alle Wege nach Santiago – und nicht etwa | |
nach Rom. | |
## Netzwerk kultureller Events | |
Den Weg säumen zahllose kulturhistorische Denkmäler, und er ist | |
mythenträchtig. Das moderne Europa sei auf der Pilgerschaft entstanden, | |
soll Johann Wolfgang von Goethe gesagt haben. Es gibt auch Meinungen, die | |
in der „Entdeckung“ dieses Apostelgrabes im 9. Jahrhundert einen ersten | |
abendländischen Reflex auf die damalige Eroberung und Islamisierung | |
Spaniens vermuten, einen Reflex, der die Entwicklung einer europäischen | |
Identität ankündigte. | |
Doch Kulturrouten bedeuten nicht bloß Pilgerwege. Auch wenn weitere | |
folgten, etwa die Via Francigena (Canterbury–Rom, 1994), der | |
Sankt-Olavs-Weg (Nordeuropa 2010), die Via Romea Germanica (Stade–Rom, | |
2020). Die zweite Kulturroute von 1991 setzte ganz andere Akzente: Sie | |
stellte die Geschichte des freien Handels, der Koexistenz und des | |
Bürgerschutzes der seehandeltreibenden Länder Nordeuropas in den Fokus: die | |
Hanse. | |
Diese Kulturroute, vor allem entlang der Ostsee, erinnert an den Bund der | |
seefahrenden Kaufleute zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert, dem zeitweise | |
225 Städte angehörten. Eine Art „mittelalterliches Europa“. An dem heutig… | |
Kulturroutennetzwerk (Sitz ist Lübeck) sind 6 Länder und zahlreiche | |
Institutionen beteiligt, die unter anderem den alljährlichen Hansetag mit | |
vielen kulturellen Events organisieren. | |
Ein anderes Mammutprojekt ist die Europäische Route der Industriekultur | |
(Kulturroute seit 2019). Das Netzwerk zählt 26 Mitgliedsländer, die auf je | |
unterschiedliche Weise Besuchern und Interessenten einen Zugang zu den | |
Zeugnissen von 200 Jahren europäischer Industrialisierung bieten. Wer hier | |
etwa an den Ruhrpott und an Industriedenkmäler denkt, zu denen ehemalige | |
Kohlezechen umgewidmet wurden, liegt richtig. Diese wiederum wurden durch | |
spezielle kleinere Routen und Kultur- und Bildungsprogramme erschlossen, | |
die ganz wunderbar als touristische Angebote funktionieren. | |
## Kultureller Austausch im Mittelmeer | |
Auch die Kunst und Malerei wurde mehrfach Thema für Kulturrouten. Selbst | |
die Anfänge der Prähistorie, für die es – vor allem in Frankreich und | |
Spanien – zahlreiche spektakuläre Zeugnisse in Höhlen gibt. Diese | |
Steinzeitmalereien sind vielfach Besucherhits, auch wegen angegliederter | |
moderner Museen und Höhlennachbauten, die nötig wurden, um die | |
Originalkunst zu schützen. Die Wege der prähistorischen Steinkunst (2010) | |
führen aber auch nach Norwegen und Finnland und nach Georgien und | |
Aserbaidschan. Oder die Route der Phönizier: Sie bezieht sich auf die | |
Verbindung der wichtigen Seewege, die von den Phöniziern für den Handel und | |
den kulturellen Austausch im Mittelmeerraum benutzt wurden. | |
Die Kulturrouten des Europarates sind das vielleicht schönste Programm im | |
langen und mühsamen Prozess einer europäischen Einigung nach dem Zweiten | |
Weltkrieg. Damals galt es, die Scherben wegzuräumen. Der Europarat war ein | |
Grundelement, er traf die entscheidenden Festlegungen hinsichtlich | |
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, der Menschenrechte, der | |
Transnationalität, er stand also für die Maßstäbe der Gestaltung eines | |
künftigen Europas. | |
Ihm angegliedert ist [2][der europäische Gerichtshof] für Menschenrechte. | |
Sitz ist Straßburg. Gegründet wurde der Europarat im Mai 1949 von 10 nord- | |
und westeuropäischen Staaten (1951 trat die damalige BRD bei) noch vor | |
anderen europäischen Einrichtungen, er ist nicht identisch mit der | |
wirtschaftlich ausgerichteten EU. Mit einer „Rahmenkonvention über den Wert | |
des Kulturerbes in der Gesellschaft“ (Faro-Deklaration) wurde im Jahr 2005 | |
die Bedeutung des kulturellen Erbes als einer Ressource für sozialen | |
Fortschritt und eine nachhaltige Entwicklung besonders betont und | |
festgeschrieben. Und so ist eine Fokussierung des Europarats auf | |
grenzüberschreitenden Kulturtourismus nur folgerichtig. | |
Um „Reisen durch Zeit und Raum“ möglich zu machen und „Orte und Menschen… | |
zusammenzubringen, können im Rahmen der themenbezogenen Kulturrouten die | |
unterschiedlichsten Initiativen, wissenschaftlichen Institute und | |
kulturellen Projekte national wie international verknüpft werden. Was nicht | |
nur für kulturaffine Touristen, sondern auch für sogenannte | |
strukturschwache Regionen interessant ist. Gibt es doch im Rahmen | |
verschiedener EU-Programme hier auch Fördermöglichkeiten. Aktuell gibt es | |
45 europäische Kulturrouten. Allein fünf neue kamen im Frühjahr dieses | |
Jahres hinzu. | |
Eine großartige Veränderung brachte seinerzeit das Ende des | |
Ost-West-Konflikts. Europa konnte danach wieder anders gedacht werden, | |
Beispiel Via Regia (2007): Sie beschreibt die älteste und längste | |
Landverbindung zwischen Ost- und Westeuropa zwischen Kiew, Krakau, Leipzig, | |
Frankfurt, Paris, Bordeaux und reicht bis nach Santiago de Compostela. Ein | |
schönes Ergebnis der Initiativen war die Broschüre „Erlebnisradweg Via | |
Regia – Kulturstraße des Europarates“. Der Via Regia folgt auch der | |
ökumenische Pilgerweg Görlitz–Vacha an der Werra. | |
## Route des eisernen Vorhang | |
Und es entstand die [3][Route des Eisernen Vorhangs] selbst, der Iron | |
Curtain Trail: Rund 10.000 Kilometer Radwanderweg entlang der ehemaligen | |
Grenze des Warschauer Pakts, 2019 zur Kulturroute erklärt und von der EU | |
kofinanziert, erdacht und auf den Weg gebracht von dem ehemaligen grünen | |
Europaabgeordneten Michael Cramer. Eine Idee, die, so Cramer, einen | |
Vorläufer in dem von ihm initiierten Berliner Mauerweg hatte. Er hält das | |
Fahrrad für das „ideale Verkehrsmittel“. So radelte er auch selbst von der | |
Barentssee bis zum Schwarzen Meer. | |
Im Unterschied zur EU mit ihren jetzt 27 Mitgliedern zählt der Europarat 47 | |
Mitgliedsstaaten. Damit vergrößern sich auch die Möglichkeiten, | |
Themenschwerpunkte über die EU-Grenzen hinaus zu setzen, etwa mit der | |
Europäischen Route des jüdischen Erbes. Hier sind 18 Länder beteiligt | |
einschließlich östlicher Länder wie Georgien und Aserbaidschan. | |
Auch andere Routen dehnen die bekannten Grenzen oder führen darüber hinaus. | |
In der Warteschleife befindet sich beispielsweise die Via Eurasia. Ihre | |
Initiatoren planen eine kulturelle Fern- und Wanderroute, die eine Reihe | |
historischer Routen verbindet, vorzugsweise wichtige römische Straßen, die | |
über Italien hinaus über den Balkan und Griechenland bis in die Türkei | |
führten. Der Lykische Weg in der südlichen Türkei soll der letzte der Wege | |
sein. Vorerst. Vermutlich geht es mit dieser Wanderlust irgendwann weiter. | |
8 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Christel Burghoff | |
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