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# taz.de -- Digital unterwegs: Moderne Nomaden
> Der Kapitalismus hat sich selbst das Aussteigen einverleibt.
> Dauerreisende irgendwo zwischen Modeln, bezahlter Selbstdarstellung und
> Bio Food.
Bild: Die Backpacker und Rollkofferleute sind sich ähnlicher als gedacht
Kürzlich schrieb mich ein Dauerreisender an. Keiner von dieser
Hochleistungsspezies mit Rollkoffern, die von Dubai nach London jetten, in
klimatisierten Bürotürmen leben, drei Stunden schlafen und neben ihrem
religiösen Glauben an die Wirtschaft auch glauben zu wissen, wie „der
Brasilianer“ tickt. Sondern ein selbst ernannter Globetrotter. Die zweite
wildwachsende Spezies der Dauerreisenden.
„Ich reise seit Februar 2011 nonstop um die Welt.“ Er habe über 95 Länder
bereist, zuletzt mit Tandem. Und er wollte Berichterstattung, über sich
selbst, versteht sich.
Moderne Nomaden scheinen zunächst Antipoden der Rollkofferleute zu sein:
Sie reisen nicht, um Geld zu verdienen, sondern verdienen (meist) Geld, um
zu reisen. Palmen und Horizonte statt Krawatten und DAX-Graphen. Aber schon
länger befürchte ich, dass sie einander sehr ähnlich sind.
Letztens brachte der Spiegel eine Sehnsuchtsgeschichte über eine digitale
Nomadin. Fest angestellt für eine Agentur arbeitete sie als Recruiterin auf
Bali, in hübschen Co-Working-Spaces, wo keine Einheimischen stören. Die
Leistung lässt sich unterwegs praktischerweise genau messen, so weiß man,
dass man produktiver ist – ein unschlagbares Argument fürs Reisen.
Sie erzählt, man „wohnt in einem Haus mit Pool, das zweimal die Woche
geputzt wird, geht dreimal am Tag auswärts essen, kriegt seine Wäsche
gewaschen und gebügelt und lässt sich zweimal pro Woche massieren.
Dienstleistungen sind dort einfach unfassbar günstig.“ Fast wie in
Britisch-Indien. Super.
## Eine soziale Form des Reisens?
Es ist eine Art umgekehrte Migrationsbewegung: hinein in die
Schwellenländer (in die wirklich armen Länder will niemand), wo die Sonne
scheint und man sich Luxus wieder leisten kann. Digitale Nomaden sind
verhaftet im Bonzen- und Spießertum. Ein anderer Teil der Dauerreisenden
betreibt bei Instagram irgendwas zwischen Modeln, bezahlter
Selbstdarstellung und Bio Food. Der Kapitalismus hat sich selbst das
Aussteigen einverleibt. Und doch, manche nehmen andere Wege.
Der Fahrradmensch, der mich anschrieb, wirkte abseitiger, sympathischer. Er
reiste mit ausgestrecktem Daumen oder Rad, fast ohne Geld. Essen holte er
sich beim Containern, als Straßenfund oder er aß bei GastgeberInnen. Ein
Leben ohne Arbeit, ohne Produktivität. Sein Blog hat lange Texte und er
gibt sich tatsächlich Mühe, von den Begegnungen vor Ort zu erzählen, von
Schulsystemen, Religion, Armut, Mode und Musik. Er schlief in besetzten
Häusern oder bei CouchsurferInnen. Eine soziale Form des Reisens, die
völlig auf das Miteinander mit Menschen angewiesen ist, ohne die Freiheit
des Geldes (aber gewiss mit dem einen oder anderen Notfallgroschen). Eine,
die Freiheit nimmt – und Freiheit schenkt.
Eine spannendere, ökologische, utopische Form der Reise ohne Plan. Und
doch, eine dissonante Note bleibt. Sich über Jahre für umsonst von
GastgeberInnen im Senegal oder in Suriname verpflegen zu lassen, ist das
kultureller Austausch oder schon begpacking? Aufstieg entsteht dort eher
durch das Geld der digitalen NomadInnen, das sie in Restaurants,
Wäschereien, Massagesalons lassen. Andererseits: irgendwer, irgendwo muss
Utopie ja anfangen.
Letztlich habe ich die Anfrage abgelehnt, No-Budget-Reisen ist nun so neu
auch nicht. Darauf bekomme ich eine Nachricht mit Links zu seinen
Social-Media-Kanälen und dem Youtube-Kanal, ich könne mich jederzeit
melden. Erst da sehe ich auf seinem Blog die geschätzten hundert Links zu
Fernsehbeiträgen, Artikeln, Radiosendungen. Fort, aber nicht aus der Welt
des Gesehenwerdens. Die loszulassen, ist schwer.
14 Feb 2021
## AUTOREN
Alina Schwermer
## TAGS
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