# taz.de -- Leben im Kleinbus: Bevor die Wände näher kommen | |
> Als digitale Nomadin durch die Gegend reisen? Für unsere Autorin erst | |
> reines Überlebenskonzept, dann bewusst gewählter Alltag. | |
Bild: Weiter, immer weiter | |
An einem Donnerstag im Februar 2023 schreibe ich eine Nachricht an Thi. „Wo | |
wohnst du noch mal?“ Thi und ich kennen uns aus Uppsala. Weil wir beide | |
viel reisen, teilten wir uns dort für einige Monate ein | |
Acht-Quadratmeter-Zimmer. Matratze links, Matratze rechts, Schreibtisch in | |
der Mitte. Das letzte Mal gesehen haben wir uns in Kappadokien, jetzt | |
studiert Thi in Italien. „In Piacenza“, antwortet sie. Ich öffne Google | |
Maps: 525 Kilometer entfernt. Nicht weit. Eine Tagestour. Ich verabschiede | |
mich von meinen Großeltern, setze mich in meinen gelben Van und starte den | |
Motor. | |
Mal eben von Süddeutschland nach Norditalien zu fahren ist für mich keine | |
Ausnahme, sondern Alltag. Seit mehr als zwei Jahren bin ich dauernd | |
unterwegs. 2023 habe ich an mehr als 60 Orten übernachtet, manchmal waren | |
es ein Dutzend im Monat. Ich war in Deutschland, Schweden, Finnland, | |
Italien und der Schweiz. Habe im Van geschlafen, bei Freunden und bei | |
Fremden auf der Couch, in Airbnbs und Hotels, in Zügen und am Flughafen und | |
einmal auch auf dem Sofa im Büro. Warum ich mir das antue? Weil mir | |
Stillstand nicht guttut. Weil dann die Gedanken zu laut werden – und zu | |
dunkel. | |
Als ich in Piacenza ankomme, ist es hell und sonnig, es hat 20 Grad. Ich | |
parke den Van und gehe zu This WG, sie kommt auf den Balkon, wir schauen | |
uns an und lachen. Später umarmen wir uns lange. Während Wiedersehen bei | |
mir starke Emotionen auslösen, tun es Abschiede nicht mehr. Ich habe mich | |
daran gewöhnt, dass meine Freunde in Europa verstreut sind – einen Anruf, | |
einen Flug oder einige Stunden Fahrt entfernt. | |
In den nächsten Tagen finden wir einen gemeinsamen Rhythmus. Wenn Thi zur | |
Uni muss, fahre ich sie, parke in der Nähe und schreibe an meinem | |
Masterexposé. Abends kocht sie Carbonara. An meinen Arbeitstagen sitze ich | |
mit Laptop und Zigarette an This Küchentisch. Einmal fahren wir Richtung | |
Süden, besuchen heiße Quellen in Saturnia und schlafen im Auto am Meer. Ich | |
wohne hier zwar nicht, aber ich fühle mich auch nicht wie eine Touristin. | |
Die perfekte Mischung für eine, die nicht diesen einen Ort hat, an dem sie | |
sich zu Hause fühlt. Außerdem macht es mir Spaß, für eine Weile in eine | |
andere Lebensrealität einzutauchen und zu schauen: Was will ich, was will | |
ich nicht, was könnte ich wollen? | |
## Bewegung, die zu Ruhe führt | |
Früher habe ich das klassische Lebensmodell nicht hinterfragt. Ende 2019 | |
lebe ich noch mit meinem Partner in Berlin, in einer Altbauwohnung zwischen | |
Vintage- und Ikea-Möbeln. Dann streiten wir immer häufiger. Kurz bevor die | |
Pandemie beginnt, endet die Beziehung. Zwar finde ich schnell ein | |
WG-Zimmer, doch zur Ruhe komme ich nicht. Meine Gedanken rasen. Die | |
Verarbeitung der Trennung, das Fehlen einer stabilen Familie, Ängste vor | |
Armut und davor, dem Studium nicht gewachsen zu sein, Selbstzweifel: Es | |
fühlt sich an, als würden mich die Wände meines Zimmers erdrücken. | |
Ich werde immer stiller. Weine immer öfter. Rauche immer mehr. Rufe die 116 | |
117 an und lasse mich in eine Klinik einweisen. Drei Wochen bleibe ich | |
dort. Die Gespräche mit anderen Depressiven stabilisieren mich, ich fühle | |
mich verstanden und weniger allein. Zwischen Einzel- und Gruppengesprächen, | |
Ergotherapie und Sport höre ich auf, mich zu fragen, ob ich weiterleben | |
möchte, und beschließe, eine Reise zu planen. Ich will Abstand. Zu Berlin, | |
zu den Dingen und den Orten, die all die Gedanken ungebremst auf mich | |
einprasseln lassen. Ich will selbstbestimmt entscheiden, wann und mit wem | |
ich über Erinnerungen spreche – und wann ich einfach einen unbeschwerten | |
Tag verbringe. | |
Ich buche einen Zug nach Schweden. Will drei Wochen bleiben und bleibe | |
fünf, weil ich über die Couchsurfing-Plattform immer wieder [1][Menschen | |
finde, die mich bei sich aufnehmen], mir einen Einblick in ihren Alltag | |
gewähren. Meine Definition des Möglichen wächst. Ich lache wieder öfter. | |
Energiegeladen kehre ich zurück nach Berlin – und merke nach zwei Wochen, | |
dass mich die Depression zurück ins Bett und in die Selbstabwertung drückt. | |
Also breche ich wieder auf. | |
Seither weiß ich: Erst, wenn ich mich bewege, wird es in meinem Kopf ruhig. | |
Und: Sicherheit ist eine Illusion, aber Freiheit ist echt. | |
Zurück in Deutschland sehe ich auf Ebay-Kleinanzeigen einen VW T5, einen | |
ehemaligen Postbus. 177.000 Kilometer auf dem Tacho, Beulen, Rost, fährt. | |
Der Autoverkäufer und ich wissen, dass er den Wagen für mehr wegbekommen | |
würde. Aber er akzeptiert die 3.000 Euro, weil ich ihm von meinen | |
Zukunftsplänen erzähle – und von meiner Vergangenheit. Ab Mai 2021 bin ich | |
[2][fast dauernd unterwegs]. | |
Ich toure durch Schweden und in den Norden Norwegens, besuche Familie in | |
Süddeutschland, fahre im Dezember 2022 über Frankreich nach Spanien und an | |
Neujahr zurück nach Schweden, wo ich nach wie vor das | |
Acht-Quadratmeter-Zimmer miete, das ich mir mit Thi geteilt habe – mein | |
Anker, den ich Ende 2023 lösen werde, um komplett unabhängig zu sein, oder, | |
wie ich es nenne: wahlwohnungslos. Meistens schlafe ich bei den Menschen, | |
die ich besuche; manchmal im Van, manchmal im Hostel oder Airbnb. | |
Mittlerweile steht der Tacho bei 234.000 Kilometern. | |
Im März 2023 geht es nach Berlin, erst zur Auswahltagung eines Stipendiums, | |
danach zur taz ins Büro. Ich nehme den Schlafsack mit. Wenn ich schon mal | |
da bin, dann bleibe ich auch über Nacht. Ein Kollege hat mir gesteckt, dass | |
das Sofa im vierten Stock das gemütlichste ist. Bevor ich die Augen | |
schließe, sehe ich die Lichter der Friedrichstraße durch die Glaswände | |
tanzen. Um 7 Uhr morgens schaue ich von der Dachterrasse auf die | |
schlummernde Stadt, trinke Eiskaffee aus dem Supermarkt und esse ein | |
Croissant. | |
Kleine Abenteuer wie dieses erinnern mich daran, dass ich in der Lage bin, | |
schöne Momente zu schaffen. Und wenn ich mir die Herausforderungen selbst | |
stelle, fühlt sich ihre Bewältigung nicht wie Zwang an, sondern | |
selbstbestimmt. | |
## Internationaler Freundeskreis | |
Berlin, Stuttgart, Stockholm, Sundsvall, Uppsala. Mittlerweile ist es | |
April, und ich sollte meine Masterarbeit schreiben, doch der Kopf macht | |
nicht mit. Wieder bin ich rastlos. Mich nur auf einen Kontext oder eine | |
Gruppe zu verlassen, das kann ich nicht. Ich habe das nicht gelernt. | |
Zwischen der Teenieschwangerschaft meiner Mutter und der Scheidung und | |
Alkoholprobleme meiner Eltern entwickelte ich als Kind kein Gefühl von | |
Zuhause und Zugehörigkeit. Die Verbindung mit verschiedenen Menschen an | |
verschiedenen Orten fällt mir leichter, als dauerhaft irgendwo zu bleiben. | |
Also fahre ich nach Berlin, Södertälje und Lüneburg und besuche Anna-Lena, | |
Shashank und Krzysiek. | |
Seit ich reise, ist mein Freundeskreis ziemlich international. Manchmal | |
fragen Leute mich, ob ich mich nicht einsam fühle, so ganz ohne festen | |
Lebensmittelpunkt. Aber ich würde mich eher einsam fühlen, wenn ich an | |
einem Ort wäre und dann Freunde oft keine Zeit hätten und ich nicht | |
regelmäßig neuen Input erhalten würde. Wenn man diejenige ist, die nur | |
manchmal da ist, nehmen sich die Leute eher Zeit. Und: Allein sein ist eine | |
Wahl, die ich manchmal treffe. Einsam sein ein Gefühl. | |
Meine Masterarbeit schreibe ich schließlich in Uppsala. Ich schließe mich | |
ein, damit sich die Seiten füllen. Mitte Juli gebe ich sie ab und bin | |
wieder mobil, frei. | |
„Warte nie mit Dingen, bis die Umstände optimal sind. Sie werden es nie | |
sein.“ Diesen Satz höre ich in einem Podcast, als ich im Oktober überlege, | |
wohin ich als Nächstes soll. Ich denke an den Kühlwasserbehälter und die | |
pinke Flüssigkeit, die ich seit Wochen ständig nachfüllen muss. Die | |
Vernunftentscheidung wäre, das Leck reparieren zu lassen. Doch wenn ich das | |
mache, bin ich für einige Tage bis Wochen an einen Ort gebunden. Und das | |
möchte ich gerade nicht, denn in zwei Wochen bin ich erst mal in Stockholm, | |
als Stipendiatin bei der Zeitung Dagens ETC. Da muss ich meine | |
Spontanreisen eh reduzieren. | |
Spontan buche ich eine Fähre nach Turku. Finnland! Ich war noch nie da, das | |
Kühlwasser tropft, ich habe keinen Plan, wo ich pennen werde, und muss in | |
fünf Tagen arbeiten. Let’s go. Weil ich Nordschweden schön fand, ist mein | |
Ziel Rovaniemi am Polarkreis. Dort, wo der Weihnachtsmann wohnt – und ein | |
finnischer Fotografiestudent, den ich vor zwei Jahren in Norwegen | |
kennengelernt habe. Damals sagte er, ich könnte bei ihm unterkommen, wenn | |
ich mal in Finnland bin. Über Instagram frage ich, ob ich für zwei Tage | |
aufkreuzen kann. Er sagt Ja. | |
Manchmal überrascht es mich, wie selbstverständlich mich Menschen bei sich | |
schlafen lassen. Dankbarkeit zieht sich durch diese Momente. Ich | |
revanchiere mich, indem ich meine Gastgeber*innen zum Essen einlade, | |
den Einkauf bezahle oder einen gemeinsamen Kinobesuch. Oder sie auf | |
Kurztrips im Van mitnehme. Ab und zu bringe ich Süßigkeiten aus dem Land | |
mit, in dem ich vorher war. Kochen hingegen mag ich einfach nicht – dafür | |
räume ich gern auf, bringe den Müll raus, gieße die Blumen. Manchmal ergibt | |
sich auch keine Gegenleistung. Dann bleibt es bei geteilter Zeit, | |
Gesprächen und neuen Erinnerungen. | |
Auch ein kanadischer Fußballspieler in Turku, ein japanischer Architekt in | |
Tampere und ein indischer Ingenieur in Kokkola lassen mich auf ihren Sofas | |
übernachten. In Kannus und Oulu miete ich Airbnbs, um zu arbeiten. Die | |
Straßen sind vereist. Meine Allwetterreifen bleiben nicht sofort stehen, | |
wenn ich bremse. Wieder in Schweden übernachte ich bei minus 4 Grad an | |
einer Tankstelle. In einem Rutsch die 852 Kilometer bis Stockholm zu fahren | |
war doch ein zu ambitioniertes Ziel. Kurz vor der Tankstelle drehe ich die | |
Heizung voll auf, um auch ohne Standheizung im Van warm einschlafen zu | |
können. Als ich aufwache, ist es arschkalt. | |
Im November schlafe ich meist am selben Ort. Meine Zeit bei der Dagens ETC | |
hat begonnen. Ich pendele fast jeden Tag 40 Minuten mit der Metro in die | |
Redaktion, schreibe Texte. Doch je öfter ich abends zurück in dieselbe | |
Wohnung komme, desto erdrückender wird es für mich. Es scheint, als würde | |
ich mit der Zeit vergessen, dass ich jederzeit gehen kann, wenn es mir | |
irgendwo nicht gefällt. | |
Also flüchte ich für ein Wochenende mit dem Nachtzug 1.300 Kilometer in den | |
Norden. 16 Stunden Fahrt, die Aussicht wird immer weißer, die innere | |
Anspannung lässt nach. Vier Stunden im Nationalpark wandern. Bin allein, | |
genieße es. Dann 16 Stunden zurück. | |
Was ich mittlerweile gelernt habe: Wenn das feste Bett und der feste | |
Wohnraum fehlt, kann man sich darin nicht verkriechen. Deshalb fühle ich | |
mich nie wirklich obdachlos, sondern sicher geborgen in der Ungewissheit. | |
9 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Klaudia Lagozinski | |
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