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# taz.de -- Arbeiten aus Urlaubsländern: Neoliberale Hippies
> Digitale Nomad:innen verstehen sich oft als Globalisierungsavantgarde.
> Dabei verkörpern sie das Gegenteil einer Alternativbewegung.
Bild: Vormittags den Laptop unterm Arm, nachmittags das Surfbrett
Eigenheim, Auto und Nine-to-Five waren gestern, heute heißt es: Lebe nach
deinen eigenen Regeln. Finde dein Herzensthema. Arbeite flexibel und
ortsunabhängig von überall auf der Welt. Diesem millennial’schen Imperativ
von Ungebundenheit, Sinnsuche und Abenteuer wollen auch in Deutschland
immer mehr Menschen folgen. Nach einer Bitkom-Umfrage würden 35 Prozent der
befragten Erwerbstätigen überwiegend aus dem Ausland arbeiten, wenn sie die
Wahl dazu hätten. Die Speerspitze des Trends bilden die sogenannten
digitalen Nomad:innen. Als solche:r versteht sich, wer nicht nur
überwiegend aus dem Ausland arbeitet, sondern gänzlich ohne festen Wohnsitz
durch die Warmwetterzonen jettet und zum Geldverdienen nicht mehr als
Laptop und stabiles WLAN benötigt.
Ein auffälliger und online sehr präsenter Teil dieser Community inszeniert
seinen Lebensstil dabei als hippiesken Gegenentwurf zu einer langweiligen,
entfremdeten Angestellten-Vita. „Ich möchte endlich meine eigenen Träume
verwirklichen, anstatt meine Lebenszeit für die Träume eines anderen
abzusitzen“, lautet ein gern geteilter Aphorismus aus den Facebook-Gruppen
der Szene. Doch das Phänomen zeigt auch die Leerstellen und Paradoxien
spätkapitalistischer Gesellschaften: Frei und ungebunden sein bedeutet vor
allem, sich aus staatlichen und arbeitnehmerischen Strukturen herauszulösen
und sich radikal dem Markt zuzuwenden.
Wie die New-Work-Autorin Christine Thiel in ihrer 2021 publizierten
Dissertation „Der mobile Alltag Digitaler Nomaden zwischen Hype und
Selbstverwirklichung“ nachzeichnet, folgte der Nomad:innen-Trend auf einen
internationalen Bestseller: „Die 4-Stunden-Woche: Mehr Zeit, mehr Geld,
mehr Leben“ aus dem Jahr 2007 von Timothy Ferriss. Darin wurde Reichtum
nicht mehr durch Besitztümer, sondern über frei verfügbare Zeit und
Mobilität definiert. Postmaterielle Werte wie Selbstentfaltung und
Selbstverwirklichung, die zuvor die Boheme für sich beansprucht hatte,
konnten so als „neuer Reichtum“ gelabelt, kapitalistisch imprägniert und in
die Welt der High Perfomer und Karrieremenschen transferiert werden.
Doch so ein Lebenskonzept muss finanziert werden. Ferris empfahl dafür zum
einen den Aufbau von passivem Einkommen. Dies beschreibt eine einmalige
Arbeitsleistung, die daraufhin ohne weiteres Zutun Einnahmen generiert.
Beispielsweise ein Web-Seminar, das, einmal online, immer wieder abgerufen
und verkauft werden kann. Zum anderen verbreitete Ferris das Prinzip der
sogenannten Geoarbitrage. Damit wird die Ausnutzung weltweit
unterschiedlicher Lohnniveaus und Lebenshaltungskosten bezeichnet. Konkret:
Selbst mit einem eher geringen Gehalt aus Deutschland lässt es sich in
Ländern des Globalen Südens gut leben. Diese beiden Strategien kennzeichnen
auch die Lebensweise vieler Digitalnomad:innen.
## Vom Markt getrieben
Doch die vermeintlichen Erfolgsmodelle führen nur für wenige zum
propagierten Luxus-Life. Das zeigt die Feldstudie von Christine Thiel, die
sich zwischen 2015 und 2019 immer wieder mehrere Monate an den weltweiten
Webworker-Hotspots aufhielt und qualitative Interviews mit Nomad:innen
führte. Viele digitale Nomad:innen leben trotz Geoarbitrage als prekäre
Freelancer:innen.
Sie arbeiten im Amazon-Direkthandel, geben Lebens- und Business-Coachings,
betreiben als virtuelle Assistenzen eine Art Onlinesekretariat oder
verfassen suchmaschinenoptimierte Werbetexte. Wenige Nomad:innen bleiben
über längere Zeit bei einer Tätigkeit, vielmehr sind sie getrieben von den
schnelllebigen Moden des digitalen Marktes. Gerade noch geben und nehmen
sie Kurse darüber, wie man durch cleveres Meilensammeln
Business-Class-Flüge abgreift, dann mieten sie günstige Immobilien in
Ländern des Globalen Südens, um sie teuer an Tourist:innen
unterzuvermieten.
Die meisten digitalen Dienstleistungen folgen aktuellen Trends, werden
massenhaft kopiert, bis schließlich ein neuer Hype durch die Szene rollt.
Die Produkte richten sich darüber hinaus häufig an das Milieu selbst und
sind auf die Rekrutierung neuer „like-minded-people“ aus. Ihre in E-Books,
Podcasts, Blogs und Onlinekurse gegossenen Programme heißen „I choose
Freedom“, „Officeflucht“ oder „Breakout! Raus aus dem System, rein in d…
(steuer-)freies Leben“. In vielen Momenten wirkt die Szene wie ein großes
Schneeballsystem, in dem sich die Mitglieder ihre Coachings gegenseitig
andrehen. Immer wieder im Gegenschnitt: das Bild des fremdbestimmten
Nine-to-Five-Angestellten als typischen „Hamsterrad-Menschen“. Einzig die
Nomad:innen scheinen ultimative Freiheit erlangen zu können.
Thiels detaillierte Studie macht nicht nur die offensichtlichen
Unstimmigkeiten einer angepriesenen Selbstverwirklichung, die sich durch
den Kauf von holzschnittartigen Online-Einleitungen einstellen soll,
sichtbar. Sie beleuchtet auch weitere Widersprüche zwischen dem
vermarkteten Lifestyle und der Lebensrealität der digitalen Nomad:innen.
Das vielleicht größte Paradox offenbart sich bei der Betrachtung ihrer
Befreiungsdiskurse. In den Facebook-Gruppen der Szene blitzt immer wieder
eine Weltsicht auf, die staatliche Sicherheitsnetze und Regulierung
ablehnt.
Deutschland mit seinen Coronamaßnahmen und Steuer- und Schulpflicht wird in
den Kommentaren nicht selten als bürokratische, planwirtschaftliche
„Bananenrepublik“ betitelt. Diese Einstellungen stehen zwar nicht
stellvertretend für die gesamte Community, doch ihre Häufung wirkt bei
Ansicht der Befreiungsideologie nicht zufällig. Die Glorifizierung von
Selbstverantwortung, individueller Freiheit und Risikobereitschaft ist in
dieser Ideologie von Grund auf angelegt. Dabei sind es ironischerweise
gerade die verteufelten Sicherheitsnetze, die den Schritt ins
Nomad:innen-Leben für viele ermöglichen.
## Kosten des globalisierten Kapitalismus
Das Wissen um einen „weichen Fall“ bei einem Scheitern macht das
Wifi-Vagabundieren überhaupt erst zu einer Option. Unreflektiert bleiben
außerdem die Mobilitätszwänge, denen sich die Nomad:innen freiwillig
unterwerfen. Die meisten reisen mit Tourist:innen-Visa und müssen aus
vielen Ländern nach spätestens drei Monaten wieder ausreisen. Da sie ohne
Arbeitserlaubnis einreisen, bewegen sie sich zudem häufig in rechtlichen
Grauzonen.
Mit ihrem Selbstverwirklichungskitsch auf Social Media verschleiern die
digitalen Nomad:innen die Kosten des globalisierten Kapitalismus mit all
seinen Zwängen und Unsicherheiten. Viele haben die Vermarktung ihres
Lifestyles zum Geschäftsmodell erhoben. Mit der Realität haben die
instagrammigen Hochglanzbilder dagegen nicht viel gemein; sie erfüllen sich
allenfalls für Wenige. Und auch das kapitalismuskritische Moment durch das
Anprangern der Entfremdung im Angestelltenverhältnis entpuppt sich als
strategisches Schattenboxen. Ziel ist nicht, den „Feind Kapitalismus“ mit
einem gezielten Schlag zu treffen, sondern das New-Work-Freelancer-Modell
gegenüber der sozialmarktwirtschaftlichen Festanstellung zu bewerben.
Die digitalen Nomad:innen hinterfragen die Mechanismen, die zu den
Marktverhältnissen führen, nicht kritisch. Stattdessen naturalisieren sie
diese und deuten sie gar als Chance um: der Verlust von sozialen und
arbeitnehmerischen Sicherheitsnetzen? Ein feierlicher Austritt aus der
eigenen Unmündigkeit. Sich als einsame Ich-AG im freien, globalisierten
Wettbewerb behaupten müssen? Eine Chance für ultimative
Selbstverwirklichung. Das ideologische Fundament beruht auf einem beinahe
spirituellen Glauben an die Befreiungs- und Entfaltungskräfte eines
unregulierten Marktes. Der Soziologe Ulrich Bröckling hat für diesen
spätmodernen Typus in den frühen 2000ern die Bezeichnung „Das
unternehmerische Selbst“ geprägt.
## Im Stil von Google, Facebook und Co
In diesem Sinne sind die digitalen Nomad:innen das Gegenteil einer
Alternativbewegung: Anstatt die gegenwärtigen Strukturen anzugreifen und
wie in den 70er Jahren innerhalb von Kollektiven, Werkstätten oder
Genossenschaften Gegenmodelle zu erproben, rufen die neoliberalen Hippies
dazu auf, den ökonomischen Mainstream auf die Spitze zu treiben.
Digitale Nomad:innen operieren wie internationale Unternehmen, wenn sie
ihre Lebenshaltungskosten in Länder des Globalen Südens outsourcen. Viele
melden ihren Wohnsitz in Deutschland ab und nutzen Steuersparmodelle im
Stile von Google, Facebook und Co. Die große Leerstelle, so resümiert auch
Christine Thiel in ihrer Analyse, ist die moralische Bewertung dieser
gesellschaftlichen Entsolidarisierung. Alles erscheint allein dadurch
legitim, dass es möglich ist.
12 Jan 2023
## AUTOREN
Luca Bognanni
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